Gastherausgeberin Larissa Kikol / 2023/
Vorstellung:
Protest und Widerstand in Form von Demonstrationen, Sachbeschädigung und Graffiti – aktuell sieht man solche Bilder wieder verstärkt in den Medien oder direkt auf der Straße. Auch die Kunst wird davon beeinflusst und das nicht erst seit heute. Postvandalismus ist ein Begriff, der keine explizit ‚neue‘ Kunstrichtung benennt, aber trotzdem längst überfällig war. Denn sowohl zeitgenössische Künstler*innen, als auch die der Nachkriegszeit, sowohl legale als auch illegale Werke lassen sich diesem Begriff zuschreiben. Bekannt gemacht wurde der Begriff in den letzten Jahren durch den gleichnamigen Instagram Account post_vandalism, der von dem irischen Künstler und Kurator Stephen Burke betrieben wird. Dieser Themenband wurde von post_vandalism inspiriert und entstand durch den gemeinsamen Austausch. Er ist gleichzeitig eine Vertiefung und ein Weiterdenken des Begriffs. Es handelt sich dabei jedoch nicht um ein Social-Media-Phänomen.
Entsprechende Werke existierten schon lange vor dem Internet, und auch die Werke der Gegenwart entstanden im gegenteiligen Kontext: dem Leben, das sich auf der Straße abspielt. Es geht um Kunstwerke, die diese Straßenaura noch in sich tragen, die von Vandalismus, genauer gesagt von Graffiti, Sachbeschädigung, Protest, illegaler Aktionskunst und vom vandalischen Flair inspiriert sind. Stephen Burke mischt auf seinem Account Künstler*innen mit und ohne Graffiti-Background, wie Katharina Grosse, David, Ostrowski, Nug, Revok oder Saeio. Andernorts wird meistens stark zwischen ,legaler Atelierkunst‘ und ‚Subkultur‘ getrennt. Postvandalismus fragt erst einmal nicht nach der Herkunft, sondern nach ästhetischen Parallelen, die besonders in den Bereichen Malerei, Bildhauerei und Readymade auftauchen. So stehen ästhetische Qualitäten im Vordergrund, aber natürlich gehören die Inhalte, die Quellen, die Inspirationen und die Vorbilder immer dazu. Diese lassen sich beim Pariser Straßenkampf 1968, in vollbekritzelten Toilettenkabinen, besetzten Häusern oder auf aktuellen Demonstrationen ausmachen.
Der Band beginnt mit dem Essay Postvandalismus – Ästhetisches Lernen von der Straße von Larissa Kikol, der sich Reflexionen über den Begriff annimmt sowie zwei unterschiedliche historische Herleitungen aufbaut. Zum einen geht es um die Popularisierung des zivilen Ungehorsams, um die ästhetischen Erkenntnisse aus Straßenkämpfen bis hin zu Graffiti, zum anderen um die Künstler*innen, die ihre eigenen Wege fanden, den Vandalismus von Draußen in neue Bildsprachen zu übersetzen. Im Interview mit Stephen Burke wird dessen Idee hinter Postvandalismus beleuchtet. Wie kam er zu dem Begriff? Was inspirierte ihn auf der Straße, wie agierte der Künstler und Kurator dort selbst und was fand er im White Cube wieder?
Der meist illegal arbeitende Künstler und Graffitisprayer Bus126 berichtet im Interview vom vandalischen, jugendlichen Geist Ende der 1980er Jahre in Berlin und über Malerei, die sich überdimensional groß an unerlaubten Orten ausdehnt. In einer Bilderschau werden Künstler*innen wie Baptiste Debombourg, Felix Kiessling, Klara Lidén oder Felix Schramm vorgestellt, die in den Medien Bildhauerei und Fotografie die vandalischen Aktionen konservieren, transportieren und neu inszenieren. Mark Jenkins beispielsweise formt den Vandalen selbst ab und stellt ihn in Lebensgröße in den White-Cube.
Der Essay Abstrakter Post Vandalismus von Peter Michalski geht anhand von zwei Einzelkünstlern den mal figurativen, mal abstrakten Bildwerdungsprozess vom vandalischen Graffiti im Außenraum hin zu Papier und Leinwand nach. Tobias Morawski bespricht in Das Kollektiv ist die Kunst – Interventionen für ein Recht auf Stadt Protest und Kunstaktionen in Städten, die ursprünglich gegen Gentrifizierung ausgerichtet sind. Doch immer öfter wollen Immobilienkonzerne sich dieser Subkulturen zu eigenen Werbezwecken bedienen.
Der Galerist Nils Müller von Ruttkowski;68 spricht im Interview über Biografien, wie auch seine eigene, die sich zwischen Graffiti, Illegalität und Kunstmarkt bewegen – was besondere Qualitäten, aber auch Sorgen mit sich bringt. In Ästhetische Transfers – Straße und Vandalismus als visueller und lärmender Einfluss untersucht Kikol konkret den ästhetischen Charakter der vandalischen Aura sowie den Transformationsprozess von Chaos und Unruhe bis hin zum Overkill einer U-Bahn-MTV-Show von und durch Christoph Schlingensief.
Zum Band: https://www.kunstforum.de/band/2023-287-post-vandalismus/