/Metropol Kunstraum München / Ausstellung: When we kissed that kiss /
Auszug:
Abstrakte Malerei bedeutet auch nackte Tatsachen zu schaffen. Was nicht heißt, dass sich der Künstler seiner Kleidung entledigt. Die nackten Tatsachen beziehen sich nicht auf den Körper des Urhebers. Er legt auch keinen Seelenstriptease hin, bei dem jeder expressive Pinselstrich für eine Neigung des Unterbewussten decodiert werden kann. Dieses Narrativ gehört zur ‚Dichtung und Wahrheit‘ des 20. Jahrhunderts, besonders zum abstrakten Expressionismus. In der Gegenwart ist es vielmehr die Malerei selbst, die sich nackt macht. Die Lesart einer unfigürlichen Bildsprache löst sich im 21. Jahrhundert vom Künstler-Ich. Es geht weniger um ihn, weniger um seine psychischen Impulse und vielmehr um das Bild und das Malerische selbst. Und wenn keine Figuren und keine Geschichten mehr dargestellt werden, dann repräsentiert das Werk auch nichts anderes als pure Malerei. Da, wo Konturen und figürliche Inhalte nicht mehr ablenken, kann man die Grundbausteine und das reine Wesen des Bildes wahrnehmen: Farben, Formen, Kompositionen, Licht, Dynamiken, Spuren, Gesten.
Michael Müller führt uns mit seiner Ausstellung When we kissed that kiss in die Grundbausteine seiner Malerei und durch die ästhetischen Fragen, die er in seinen Arbeiten aufwirft. Es gibt mehrere Möglichkeiten die Ausstellung zu lesen. Man kann dem Rosa und Grau folgen, dem Gelb zuhören. Es sind die, für Michael Müller charakteristischen Farben, die hier ein Spektrum an unterschiedlichen Daseinszuständen aufzeigen. Mann kann auch mit den Zeiten und Datierungen springen, oder man spürt die unterschiedlichen Techniken und ihre Möglichkeitsräume für abstrakte Malerei auf.
Nicht eine Person wird geküsst, nicht eine Figur steht im Vordergrund, sondern ein Abstraktum, eben wie ein zu küssender Kuss. Um seiner Malerei auf die Spur zu kommen, eignen sich besonders die vielen kleinen Formate, die unterschiedliche Ansätze aufzeigen, die Zeichnungen der Formsuchungen, und wiederum ihre Nähe zu einigen größeren und dichteren, abstrakten Werke.
Der Beautiful summer fällt dementsprechend nicht überdimensional aus. Das gelbe Kleinformat misst gerade einmal 45 x 58,2 cm. Dieser Sommer, falls es denn einer ist und kein halluzinierter Fiebertraum, erinnert an glühende Himmel, die mit dem Meer verschmelzen, an goldene, mit dunkelvioletten Algen durchtränkte Wellen. Oder an die Auflösung des Horizonts durch hitzige exotische Winde. Das Zusammenspiel aus gelben und braunvioletten Tönen könnte auch aus Paul Gauguins Tahiti-Bildern entlehnt sein. So, als wären Gauguins Figuren, Sand und exotische Landschaften ineinander geflossen um in Abstraktion aufzugehen. Gauguin träumte von einer menschlichen Ursprünglichkeit, hier in der Abstraktion geht es um eine Ursprünglichkeit der malerischen Autonomie.
Konsequenterweise ist die Arbeit nicht durch einen Pinsel entstanden, sondern durch Hand und Finger. Auch diese Ursprünglichkeit kommt also in Beautiful summer zum Tragen, so wie in zahlreichen anderen Arbeiten aus Michael Müllers Werkkomplex. Müller arbeitet oft mit den Händen, setzt Ballen, Finger oder sogar Fingernägel zum Ritzen ein. Der direkte Körperkontakt mit der Farbmaterie und der Leinwand erhöht die direkte Verantwortung für den Malakt, weil der Pinsel als potentieller Sündenbock ausgespart wird. In der Übernahme dieser Verantwortung liegt aber auch die Öffnung für umso mehr Sinnlichkeit und Nähe.
Auch in das Das Auftreffen hört man das Gelb wieder. Die hochkantigen Formate lösen sich von Landschaftsassoziationen und trotzen in ihrer Vertikalen. Auf diese Weise bleibt Gelb eben gelb, gänzlich ohne Gedanken an Natur oder gelbe Motive. Gelb wird dann zu einem eigenständigen Protagonisten, der auf seinen Gegner trifft: Das Braun. Kaum eine andere Farbe lässt sich in der menschlichen Wahrnehmung so schnell und unangenehm verschmutzen wie das Gelb. Diesem Stresstest ist die Farbe hier ausgesetzt. Viel dunkle Materie setzt sich auf sie, hinterlässt Schlieren, Flecken und Angriffsmöglichkeiten. Dahinter ein Gelb, was durch seine fast giftige Zitronigkeit überdauert. (…)