Kunstsammlung Jena, „Glauben und Handeln“, mit Texten von Larissa Kikol und Raimar Stange.
Mein Essay: Die Politik abziehen. Eine andere Perspektive auf Julian Röders politische Fotografie.
Einleitung und 1. Kapitel:
„Subtrahiert man die tagespolitischen Themen in Röders Arbeit, steht man nicht vor dem Nichts. Ein Beweis dafür, dass Röder keine politischen Illustrationen anfertigt, sondern Werke, die auf mehreren, inhaltlichen Ebenen stattfinden. In einigen Bildserien soll nun die direkte (geo-)politische Thematik wie der G8-Gipfel oder Dubai als Austragungsort einer Waffenmesse bei Seite geschoben werden. Stattdessen tritt der Mensch in fast theatralen Kulissen zum Vorschein. Als Masse, als Masse mit Gestaltungswillen, als Held, Anti-Held, Statist oder theatraler Chor. Was dann nach Inszenierung schreit, bleibt eine subjektive, aber realistische Sicht auf das natürliche Auftreten der Akteure, und auf Welten, die ihr eigenes Theater spielen.
1. Masse
In der Serie The Summits zeigt sich die Masse in ihren verschiedenen Wesenszuständen. Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti schrieb in Masse und Macht: „Der wichtigste Vorgang, der sich innerhalb der Masse abspielt, ist die Entladung. Vorher besteht die Masse eigentlich nicht, die Entladung macht sie erst wirklich aus. Sie ist der Augenblick, in dem alle, die ihr zugehören, ihre Verschiedenheiten loswerden und sich als Gleiche fühlen.“[i]
Diese Entladung erkennt man in The Summits als Entladung von zurückgehaltener Energie, angestaut durch die Planung von Aktionen oder durch das Warten auf den geeigneten Anlass. Schreitet die Masse dann zur Tat und verwirklicht ihren Selbstzweck, der gleichzeitig den intimen Phantasien und Wünschen entspricht, ereignet sich die Entladung als Höhepunkt, wie auf Protest against G8 summit in Evian I. Die gestalterische Form der Massenaktivität kann zu Vandalismus, zu Feuer, zu Lärm, zu Dampf, zu Abgrenzungen, Sperrungen oder zu In-Besitz-Name von öffentlichem oder privatem Raum führen. Die siegreiche Entladung der Demonstranten bedeutet das ideale Zusammenspiel von statischer Präsenz und aktiver Gestaltung ihrer Umwelt. Die Fotografien Protest against G8 summit in Genoa VI und IV zeigen den Moment nach der Entladung und verstärken kompositorisch die ästhetische Formkraft, die sich auf den umgebenden Raum auswirkt. Autos brennen aus, schwarzer Rauch besetzt den Ort und Müll liegt auf der Straße. Zerstörung macht aber auch Lärm und ist effektvoll, sie ist relativ leicht herbei zu führen und reizt alle Sinne der Wahrnehmung. Zerstörung ist eine äußerst lukrative Befriedigung, für Kinder und Erwachsene in verschiedenen Kulturen. Über das Feuer schrieb Canetti: „Es zerstört auf unwiderrufliche Weise. Nichts ist nach einem Feuer wie es vorher war. Die Masse, die Feuer legt, hält sich für unwiderstehlich.“[ii] Doch, so muss man Canetti ergänzen, geht es bei dem ‚Unwiderstehlichen‘ nicht nur um die Identität der Masse als Subjekt, sondern vielmehr um die Bestärkung ihrer Formkraft, also ihrer Potenz und Macht. Erstere Unwiderstehlichkeit würde implizieren, dass sich die Masse öffnen und vergrößern will. Feuer sendet jedoch genau gegenteilige Signale: Sie hält die anderen auf Abstand, die Masse vergrößert nicht sich selbst, sondern den Raum, den sie gegen andere abschirmt.
Röder fotografierte einige der Demonstrationsteilnehmer in ihren emotionalsten Momenten der Entladung. In Protest against G8 summit in Evian I laufen, kicken und agieren sie. Vor ihnen eine Mauer aus Nebel, was oder wer sich dahinter verbirgt, wissen sie in diesem Augenblick vielleicht selbst nicht mehr. Adrenalin hält ihre Körper unter Spannung, das Bereit-Sein steht für ihre innere Haltung. Die sechs Demonstranten agieren für sich, in leichter Distanz, und bilden doch eine Einheit, die sich sekundenschnell wieder eng formieren kann.
Andere Arbeiten wie Protest against G8 summit in Heiligendamm II zeigen eine (temporäre) Auflösung der Masse, oder ein erneutes Zusammenfinden nach einer vorherigen Auflösung. Vielleicht gab es eine körperliche Auseinandertreibung durch die Polizei, die ihre innere Vernetzung natürlich nicht lösen konnte. Das getrennte Weglaufen gehört zum Transformationsprozess der Masse, die weiß, dass sie sich später, an einem anderen Ort wieder zusammenziehen wird, um ihre Formkraft erneut zu bündeln. The Summits wirkt jetzt wie ein Performance-Stück über eine vandalische Interpretation der Beuyschen Sozialen Plastik. Vandalische Demonstrationen haben einen Form-Willen, sie wirken inhaltlich wie ästhetisch auf ihre Umwelt ein.“
[i] Elias Canetti, Masse und Macht, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1980, S. 12
[ii] Ebd. S. 15f