Kunstforum International, Band: Graffiti Now – Ästhetik des Illegalen.
Auszug:
„Ab dem Fall der Mauer wirken Begriffe wie Klasse, Ausbeutung und Entfremdung als verbraucht und überholt[1], schreibt der Soziologe Franz Schultheis im Vorwort zu Der neue Geist des Kapitalismus von Luc Boltanski und Ève Chiapello. Damit stimmt er in die Untersuchung ein, die nachvollzieht, wie der Kapitalismus Sozial- und Künstlerkritiken der 60er und 70er Jahre erfolgreich aufgenommen hat, sich als lernfähig bewies und aus den Unruhen gestärkt hervorgegangen ist. Die Forderungen, die ab 1968 lauter wurden, beriefen sich auf mehr Kreativität, Kraft der Phantasie und Emanzipation im Arbeits- und Alltagsleben.[2] Der damalige, industrielle Kapitalismus mit seiner industriellen Massenware, seiner autoritären Fabrik- und Unternehmensführung sollte nicht länger geduldet werden. Er sei eine Quelle der Unterdrückung, außerdem fehle es an Authentizität in der Massengesellschaft[3], die für die Massenproduktion geschaffen wurde. Der neue Geist des Kapitalismus ist für Boltanski und Chiapello der Geist, der verspricht eben diese Forderungen einzulösen, der aber tatsächlich nur zu einer Scheinfreiheit der Konsumenten führe.[4] Niederschläge lassen sich zum Beispiel auch in Arbeitgeberschriften finden, so hieß es 1977, dass das Unternehmen ein idealer Ort „für soziale Innovation, schöpferische Phantasie und freie Initiative“[5] sei. Designkonzepte, die Individualität statt Massenware generieren, Luxuslinien, die Tourismus- und Restaurantbranche, ökologisches Engagement[6], Bio-Produkte und ein großer Einschluss von Kultur in den kapitalistischen Markt im Sinne einer Bereicherungsökonomie[7] waren die Folgen. Dass sich hierfür die bildende Kunst als idealer Partner erweist, liegt auf der Hand – sie bietet eine Aura von Kreativität, individuellem Ausdruck und Freiheit. Die Graffiti-Bewegung steht jedoch nach Ilaria Hoppe, Professorin für Kunst an der katholischen Privatuniversität Linz, für Risikobereitschaft, Abenteuerlust, Kriminalität, Schmutz, Belastbarkeit, Mut und Stärke.[8] Diese Eigenschaften addieren sich zu denen der freien Kunst hinzu. Außerdem steht Graffiti für Antiautorität, Leidenschaft und Ungehorsam. Langfristig erfolgreiche Graffiti-Sprayer, besonders im Bereich des Zug-Graffitis, bringen darüber hinaus Folgendes mit: den Sieg über Gegenspieler und Konkurrenten, Landeroberung, Sportlichkeit, eine hohe Sinnes- und Gefahrenwahrnehmung sowie Entscheidungs- und Planungskompetenz. Viele der genannten Charakteristika gleichen übrigens denen, die bei der Beschreibung von erfolgreichen Unternehmern, Investoren und Sportlern gewählt werden.“
[1] Vgl. Franz Schultheis, Reflexive Gesellschaftskritik: von der Identitätskrise zur historischen Selbstverortung, in: Luc Boltanski / Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz, 2003, S. i
[2] Vgl. Luc Boltanski / Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz, 2003, S.21
[3] Vgl. ebd. S.80ff
[4] Vgl. ebd. S. 459
[5] Vgl. ebd. S. 244
[6] Vgl. ebd. S. 478-485
[7] Vgl. Luc Boltanski / Arnaud Esquerre, Bereicherung – Eine Kritik der Ware, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2018
[8] Ilaria Hoppe, Konservativ, maskilistisch und reaktionär: Sind Graffiti wirklich tot?, in: Jo Preußler (Hrsg.), The Death Of Graffiti, Possible Books, 2017, Berlin, S. 109
Foto: Herrfurthplatz, Berlin © 01.01.2015 Photo by Ricarda Veigel