Titelstory Kunstzeitung // Politische Graffitis in der Rigaer Straße Berlin gegen Mieterhöhungen und Gentrifizierung. Oder: Ein Stadtbühnenbild von Cy Twombly.
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In kaum einer anderen deutschen Stadt gibt es so viel Graffiti wie in Berlin. Damit sind aber keine hübschen Saxophone oder verträumte Frauengesichter gemeint, die viele Bürger eher noch versöhnen könnten. Nein, Graffiti sind Buchstaben, Wörter und Schriften. Hier geht es um das Stören, Besetzen und den Sieg des Zeichens am Ende der illegalen Performance, nicht um ein Fassaden-Geschenkpapier zur Stadtverschönerung. Die Rigaer Straße, medial bekannt durch Polizeieinsätze und Wohnungskämpfe, ist derzeit mit Graffiti übersät wie schon lange nicht mehr. So wird dieser Teil des Aufstandes, also der ästhetische Graffiti-Kampf um Wohnraum, Freiheit und gegen Gentrifikation, ein in Deutschland wichtiger Schauplatz, der gerade auch visuell einiges zu bieten hat.
Leidenschaftslose würden es zwar Geschmiere nennen, doch die leichte und chaotische Fülle an kritzeligen Buchstaben, Zahlen, Sätzen und Zeichen kann genauso gut an ein dramatisches Bühnenbild von Cy Twombly erinnern. Natürlich finden sich hier aktuell auch die meisten politischen Statements: „Eat the Rich“, „Gentri Fickt euch alle!“, „Steigende Mieten stoppen“, „No Cops, No Masters, Only People“ oder „Rigaerroulette – Rien ne va plus“. Aber auch viele Abkürzungen und Zeichen entwickelten sich in der letzten Zeit speziell aus dem politischen, linken Anwohnerkampf: „VLR“, das steht für „Viva la Rigaer“. Die Rigaer Straße ist eine sehr lange Straße in Friedrichshain, eine der letzten Straßen im hippen Berlin, wo noch authentisch alternative Wohnprojekte, Bars, Konzertsäle und Vereine zu finden sind. In den letzten Jahren entstanden hier luxuriöse Wohnkomplexe und Eigentumswohnungen. Im neuen „Carré Sama-Riga“ liegt die Zielmiete bei 13.50 Euro pro Quadratmeter. Preise, die sich viele Berliner nicht leisten können.
Die Gerüchteküche besagt, dass die linken Anwohner vertrieben werden. Der Kampf tobt. Und zwar ästhetisch an den Häuserwänden, auch an den geradezu einladenden blanken Fassaden der Neubauten. Die Graffiti entstehen schnell, spontan, immer zwischen zwei Sprüngen, immer in einer Sekunde, in der man in der Straße nach rechts und links schaut, um einer möglichen Gefahr durch Polizisten frühzeitig zu entkommen. Lange kann man nicht verweilen, auch keine detaillierten Bilder malen.
So wird das Zusammenspiel zwischen der schnellen Geste und der körperlichen Performance zugespitzt. Und gerade an diesem Punkt lassen sich Parallelen zum Expressionismus herstellen, beispielsweise zu den Berliner Straßenszenen von Ernst Ludwig Kirchner, aber auch zum Abstrakten Expressionismus der Nachkriegszeit und zu Jean-Michel Basquiats berühmten Übermalungen und Textbildern.
Obwohl an der Rigaer Straße so viele unterschiedliche Tags und Graffiti zusammenkommen, scheint es, als ob sich die großen, untereinander konkurrierenden Sprayer-Gruppen Berlins hier zurückhalten. Sie überlassen diesen Ort vorrangig den Rigaer-Kämpfern. Hier gelten Sonderregeln im sonst so harten Graffiti-Wettbewerb der Stadt. Ein Ausnahmezustand in allen Bereichen, dessen ästhetischer Widerstand nicht nur das kunstwissenschaftliche Interesse wecken sollte.
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