„Allez la France“, Ausstellungskatalog der Saatchi Yates Gallery London
Über die vier französischen Künstler Jin Angdoo, Mathieu Julien, Kevin Pinsembert und Hams Klemens schrieb ich den Essay „French new wave painting… sudden, unexpected and existent.“
Einleitung:
„Getting away with it
Sie malen. Dort wo sie wollen, wann sie wollen und was sie wollen. Und doch kannte kaum einer ihr Gesicht. Sie selbst blieben anonym und geräuschlos, während ihre Arbeiten immer größer und lauter wurden. Sie malten in Tunneln, unter der Straße, auf Züge, auf Fassaden und an Mauern. Für die Malerei kletterten sie, rannten sie, sprangen sie. „Malerei entsteht ja oft da, wo wir sie nicht erwarten“[i], bemerkte Hans Ulrich Obrist einst. Genau um solch einen unkonventionellen Ursprung geht es. Denn dort, wo die Kunst eigentlich nicht hingehört, kann sie sich unter Ausschluss aller Einflüsse von Institutionen, Akademien und Märkten ungehemmt entwickeln. Auf diese Weise entstand French New Wave Painting. 4 Künstler – Jin Angdoo, Mathieu Julien, Hamsa Klemen und Kevin Pinsembert – 4 neue Positionen, die eine gemeinsame Geschichte haben: Die bedingungslose, fast zwanghafte Malerei, um der Malerei willen. Die Künstler standen nicht für transparente Fakten, sie waren urbane Geheimnisse. Jetzt, nach Jahren im Verborgenen, treten sie durch diese Ausstellung in die Öffentlichkeit.
Wenn sich Jin Angdoo, Mathieu Julien, Hamsa Klemen und Kevin Pinsembert voll und ganz der Malerei verschrieben haben, dann bedeutet das in ihrem Falle, dass sie auch unter schwereren Bedingungen malen. Nicht im schützenden Atelier, sondern draußen auf der Straße richten sie für jedes ihrer Bilder ein temporäres Spielfeld mit einer Home Plate ein, an der sie Farben und Werkzeuge bereitlegen. Die Spielfelder, also die Malerei-Orte, können ruhig sein, zum Beispiel abgelegene Mauern, an denen ihre Bilder aber von anderen nach ein paar Tagen wieder übermalt werden. Die Malerei passiert aber auch an unautorisierten Orten der Anspannung. Dort begleitet sie immer der Hintergedanke, im Notfalle ihre Farben schnell einzusammeln und davon zu laufen. Ähnlich wie die illegalen Souvenirverkäufer vor dem Eifelturm, die ihre Decken im Vorhinein schon so präparieren, dass ein plötzliches Weglaufen zu einer professionellen Gewohnheit wird.
Mit Ikeataschen und Reiserucksäcken voller Farben, Dosen, Pinsel, Streichrollen und Baustellenbeleuchtungen brechen die Künstler auf zu ihren Wänden. Dort malen sie mehrere Stunden, manchmal tagsüber, manchmal die ganze Nacht. Wenn sie verscheucht werden, kommen sie wieder.
Die Größe ihrer Bilder, die leicht bis zu sieben mal drei Meter betragen kann, hat nichts mit den überlebensgroßen Tafelbildern der Nachkriegszeit gemeinsam, die die Wahrnehmung eines Natur-Farb-Raums nachahmte oder durch den postmodernen Diskurs der Erhabenheit interpretiert wurden. Die Maler des FNWP erschließen sich die Freiheit, auf den großen Wänden zu arbeiten, die ihnen gefallen – mal überirdisch und mal unterirdisch – und das ganz ohne Absicherung im Theoriediskurs. Unter vollem Körpereinsatz, gemessen an ihrer Armlänge und selbstgebauten Werkzeugen, fügen sie dem urbanen Bühnenbild ihre eigenen Bilder hinzu. Die Stadt ist groß – die Malerei ist groß. Statt um Erhabenheit geht es um Mut zur Aktion.
Trotzdem hat FNWP nichts mit Street Art zu tun. Die Künstler malen nicht sauber, sie schenken der Stadt kein buntes Geschenkpapier für ihre Fassaden. Sie arbeiten in erster Linie für sich selbst. Ihrer Malerei liegen Zeichenkombinationen und Buchstaben zu Grunde, oft ist es ihr eigener Sprayer- und Künstlername. Die Bilder sind gestisch, expressiv, teilweise abstrakt und grob. Auf den ersten Blick scheint es als die vandalische Art Brut einer neuen Generation, die ihre eigenen Namen, Buchstaben und Formen attackiert. Das Grobe und Heftige ist nicht nur der vandalische Akt, sondern auch die Beschädigung der Motive. Damit gemeint ist der Angriff auf die Lesbarkeit ihrer Namen, Zeichen und Formen, und zwar durch ihre individuellen Wege in die jeweils eigene Abstraktion.
Kevin Pinsembert und Jin Angdoo suchten dafür eine Großzügigkeit der Farbflächen in unsauberen Form-Erfindungen. Kevin Pinsembert, inspiriert durch Industrie- und Produktdesigns, kreiert Kompositionen aus abstrakten Formen, die einerseits Buchstaben und Objekte entfremden oder andererseits von rohen Nicht-Formen zu Bad-Painting-Stillleben führen. Seine Bilder assoziieren grobe Baupläne für Stadtviertel, geheime Versuchsanordnungen oder für unproportioniertes Produktdesign.
Jin Angdoo minimalisiert die Kompositionsfülle und bläst einzelne Zeichen zu Hauptfiguren auf. Pflanzenähnliche Zweige, libellenhafte Kreuze und Punkte wie Smarties für Riesenkinder gehören zu ihrem wiederkehrenden Straßenvokabular. Weiß grundierte Mauern belegt sie mit ihren Zeichen wie nicht filigrane Tortenverzierungen oder wie phantastische Abzeichen, die sie den Wänden verleiht.
Am radikalsten wählten Hamsa Klemen und Mathieu Julien ihren Weg in die Abstraktion. Dabei unterscheidet sich die zeitgenössische, abstrakte Malerei von der des 20. Jahrhunderts, wie beispielsweise dem abstrakten Expressionismus. Wurden in Zeiten des Kalten Krieges die Bilder von Jackson Pollock, Marc Rothko und ihren Kollegen auch als kultur-politische Beweismittel der Freiheit und Demokratie (gegen die Sowjetunion) gedeutet oder im Sinne Freuds als tiefenpsychologisches Seismogramm und Selbstentdeckung, sind beide Interpretationsmodelle für aktuelle Werke obsolet. Den Weg dorthin bahnten bereits seit den 80er Jahren Künstler wie Albert Oehlen, Christopher Wool oder Katharina Grosse. Sie drückten den Resetknopf und begründeten eine neue Freiheit der abstrakten Malerei, ohne sich in zu festgefahrene Interpretationsmodelle einfügen zu lassen.[ii] In den Räumen für Kunst der Sammler Grässlin in St. Georgen erklärte Albert Oehlen rückblickend: „[…] aber letztlich bin ich bei etwas angekommen, was dem deutschen Informell recht nahekommt und wohl auch dem amerikanischen abstrakten Expressionismus – mit ganz anderer Bedeutung. […] Zumindest geht es nicht mehr um große Stimmungen, große Gefühle. Alles ist cooler geworden. Es geht um Farbe, Leinwand, Format, Hände, um mehr nicht. Es gibt nichts darzustellen, es gibt nur die Bewegung. Arm, Schulter, Hand.“[iii]
So trägt die gegenwärtige, junge Generation nicht länger die Altlasten im Sinne eines Deutungserbes des kulturpolitischen 20. Jahrhunderts mit sich. Dank ihrer Vorgänger können sie eine neue Leichtigkeit, den physischen Spaß an der Größe der Form, den Genuss der Farbintensität und eine vitale Gestik des Körpers radikal ausloten.
Mathieu Julien abstrahiert durch die Zerteilung seiner Namensbuchstaben in einzelne Farbfelder, die an wässrige Aquarelle und an surreale Konstrukte der Farbfeldmalerei erinnern. Es ist eine spielerische Herangehensweise der Komposition, aus der heraus er Farben wie an einer Kette auffädelt oder sie objekthaft im Raum wie schiefe Bauklötze aufeinanderstapelt.
Hamsa Klemens Malerei vandaliert gegen die einzelnen Buchstaben so stark, dass am Ende eine gestische, neo-expressionistische Lesbarkeit von abstrakter Malerei steht. Die heftigen Armbewegungen, Hiebe und Attacken gegen die Wände, bzw. Leinwände zeugen von einer energischen Handschrift, in der das Grün, das Silber oder das Rosa nicht sentimental, sondern vital aufbegehren.“
(…)
[i] Hans Ulrich Obrist, in: Keine Angst vor Malerei! Ein Gespräch zwischen Katharina Grosse und Hans Ulrich Obrist, in: Kunstforum International, Gegenwartsbefreiung Malerei, Band 268, 2020
[ii] Vgl. Larissa Kikol, Abstrakte Malerei – Der große Reset., in: ebd.
[iii] Albert Oehlen in: Hans-Joachim Müller, Wenn die ganze Kleinstadt zur Galerie wird, in: Die Welt, 25.09.2010. URL: http://www.welt.de/kultur/article9778083/Wenn-die-ganze-Kleinstadt-zur-Galerie-wird.html