Kunstforum International // Problematischer Umgang mit Graffiti durch Nicht-Graffiti-Künstler: „Der Elefant im Raum“.
Es wäre fast zu schön gewesen. Eine 1+ auf ganzer Linie. Obwohl Anne Imhof so viel richtig gemacht hat, übersah sie doch den, eigens von ihr mitgebrachten, Elefanten im Museumsraum. Um die Problematik zu verstehen, muss man vor Ort gewesen sein, muss die Wirkung der größten und dominantesten Installation wahrgenommen haben. Das gläserne Labyrinth führt zu einzelnen Stationen, an denen große Tafelbilder hängen, Säulen mit schweren, schwarzen Matten umwickelt oder Musikinstrumente aufgebaut wurden. Die Atmosphäre ist einzigartig. Imhof ist eine ästhetische Meisterin: die freigelegten Blickachsen der rauen Untergrund-Architektur, die Lichtverhältnisse zwischen getönten, semitransparenten und farblich überlagerten Bereichen, die Ruhe, die strenge Ordnung und darin das Wilde, Nackte und Authentische. Letzteres ist das, was in diesem Labyrinth dominiert und die größte Wirkung entfacht: die Graffitis. Genauer gesagt die Tags, aber besonders die vielzähligen Throw-Ups. Das ist eine bestimmte Art des Graffitis, in der ein Name durch eine Kontur und eine Innenfarbe schnell gemalt wird. Die Glaswände des Labyrinths stammen aus Italien, und waren bereits mit sehr vielen großformatigen Throw-Ups besprüht. Imhof entschied sich genau diese bemalten Elemente in ihrer Installation in den Fokus zu setzen. An prominenten Blickachsen, wie in den ersten Reihen aus der Vorderansicht, an Hauptwegen der Besucher, vor wichtigen, anderen Kunstwerken wie vor einem Gemälde von Joan Mitchell oder an bereits eingerichteten Performanceorten thronen die Throw-Ups. Da diese sehr gestisch ausgemalt wurden, erkennt man an der Vorder- und der gläsernen Rückseite die expressive Linienführung, die wilden Armbewegungen, die individuelle, menschliche Handschrift, die lebendigen Sprühpunkte. Ästhetisch repräsentieren sie eine Mischung aus dem amerikanischen abstrakten Expressionismus und zeitgenössischer, gestischer Kunst in der Illegalität. Der Sprüheffekt auf dem Glas wirkt gleichzeitig extrem cool und industriell oder andererseits wie aus einer heißen, durchgemachten Clubnacht. Zwischen den Graffitinamen tauchen auch politische Botschaften aus dem linken Spektrum auf. Schnell wird klar: Die Throw-Ups dominieren die gesamte Installation. Ohne sie gäbe es keine Verbindung zwischen den Einzelwerken und dem Glaslabyrinth, zwischen der rohen Architektur und der künstlerischen Aura, ohne sie würde die menschliche, authentische Gestik fehlen, wäre das Architektonische nur kalt, würde das farbliche, mystische Licht erlöschen. Auch inszeniert Anne Imhof sich für Pressefotos vor den besprühten Wänden. Damit zeigt sie sich als sportliche Sprayerheldin und als mutig Wilde. Hip-Hop, Sport, actionreiche Urbanität, Risikobereitschaft, künstlerischer Vandalismus, frecher Ungehorsam, all diese Graffiti-Charakteristika führt Imhof auf ihr Selbstbild zurück – dank der fremden Kunstwerke. Dies wäre auch in Ordnung, wenn sie damit ehrlicher und respektvoller umgegangen wäre. Auf der Internetseite des Palais de Tokyo wird das Wort ‚Graffiti‘ erst gar nicht genannt. Diejenigen, die einen Zugang zur 62 seitiger Pressemappe erhalten, können sich auf einer Seite davon dem Thema nähern. Imhof lud 28 Künstlerpositionen ein, darunter aber kein einziger Graffiti-Künstler. Weder aus Italien, noch aus Paris – eine der weltweiten Graffiti-Metropolen nebenbei bemerkt. Wenn sie das Graffiti schon so stark für ihre Installation und Selbstwirkung nutzt, warum dann nicht auch einen Gastkünstler aus diesem Bereich? Wird sich hier nicht an einer fremden Kultur und an deren Künstlern eigenmächtig bedient, um diese für den eigenen Vorteil zu nutzen? Die ignorierten Künstler erfahren keine Behandlung als Künstler, einige Namen stehen in der Pressemappe kurz aufgelistet, trotzdem werden ihre Kunstwerke wie gefundene, rein visuelle Readymades herabgewürdigt. Als ständen sie auf einer Stufe mit den „gefundenen“ Fenstern. Es hätte eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Herkunft und der Bedeutung dieser WERKE geschehen müssen, vor allem wenn man sie so prominent in den Mittelpunkt stellt. Es hätte der Versuch unternommen werden müssen, die Urheber ausfindig zu machen oder zumindest mit der Pariser Szene in Kontakt zu treten. Diese inhaltliche, stilistische und politische Auseinandersetzung könnte in fundierten Begleittexten, in Talks, auf der Internetseite oder eben durch mindestens eine authentische Gastposition aufgearbeitet werden. Doch Anne Imhofs wichtigstes Installationselement in einer ihrer wichtigsten Ausstellungen bleibt weitestgehend unbenannt. Anstatt Graffiti respektvoll als Kunstgattung anzuerkennen, öffentlich dazu zu stehen, diesen Künstlerkollegen auf Augenhöhe zu begegnen und auf diese Weise eine phantastische Ausstellung zu manifestieren, wird die Graffitikultur beklaut und ausgenutzt.
Die Carte blanche im Palais de Tokyo ist wie ein olympischer Hindernislauf. Imhof legte einen phantastischen Start hin und konnte doch nicht alle Hürden bewältigen. Die wahre Herausforderung, nämlich nicht nur die visuelle und architektonische, sondern auch die inhaltliche und kulturelle Zusammenführung beider Sphären, wurde am Ende gänzlich aus den Augen verloren.