Neues Buch: Nutzt die Kunst aus! Eine Einladung. Über Engagement und Kulturwerkzeuge

Autorenstipendium Landesbüro für bildende Kunst NRW / Kettler Verlag /

Wenn der Kunst eine politisch-kritische Funktion zugeschrieben wird, stellt sich die Frage nach ihrer Nützlichkeit – im Sinne einer konkreten Anwendbarkeit. Sind Kunstwerke die richtigen Medien, um z. B. ökologische oder soziale Ziele umzusetzen? Können künstlerische Interventionen und Artefakte zur Lösung handfester Probleme beitragen? Anhand von aktuellen Beispielen plädiert der Essay von Larissa Kikol für einen Ausbruch aus dem symbolischen Bereich und ein praktisches „Ausnutzen“ von Kunst – und denkt somit Beuys’ Vorstellung einer sozialen Plastik weiter.

Das Buch erscheint als erster Band einer neuen Publikationsreihe des LaB K. Das zum Kunsthaus NRW gehörende Landesbüro für Bildende Kunst fungiert als Informations- und Diskussionsplattform und versteht sich als Vermittler zwischen Künstler:innen, Landesverwaltung und Kulturpolitik.

Einleitung:

Im Jahre 1993 fuhr ein weißer Sprinter mit Hochdach und medizinischem Personal durch die Stadt Wien. Er hieß Louise und hielt an mehreren Plätzen, an denen sich bevorzugt Obdachlose aufhielten. Louises Zweck war es, Menschen ohne Wohnsitz, ohne Papiere und ohne die Kapazitäten, sich um die benötigte Behördenarbeit für eine Krankenversicherung zu kümmern, eine medizinische Erstversorgung anzubieten. Louise war eine mobile Anlaufstelle, mit Ärzten, einer Krankenhilfe und einer Apotheke an Bord. Das Beschaffen der benötigten Gelder, Instrumente, Genehmigungen und des Fachpersonals für die Eröffnung des Sprinters geschah im Rahmen der Wiener Secession, der Vereinigung bildender Künstler Österreichs, und nicht durch die Stadt oder durch die Arbeitsgruppe einer Wohltätigkeitsorganisation.

Das dafür verantwortliche Kollektiv heißt Wochenklausur und bestand damals aus Martina Chmelarz, Marion Holy, Christoph Kaltenbrunner, Friederike Klotz, Anne Schneider, Erich Steurer, Gudrun Wagner und Wolfgang Zinggl – eine künstlerische Initiative, die nach dem Leitsatz „Für eine Intervention ist es gut, wenn sie effizient ist“[1] arbeitet.

Für den Start sammelte die Gruppe 70.000 Euro. Danach, Ende des Jahres 1993, wurde das Projekt von der Caritas übernommen und bis heute am Leben gehalten. Rund 700 Menschen im Monat bekommen somit medizinische Hilfe.

Die Gruppe Wochenklausur trägt damit nicht nur soziale Verantwortung als Künstlerkollektiv, sondern führt auch ein Erbe fort, nämlich das Streben nach einem realen Nutzen der bildenden Kunst in der Gesellschaft. Dieser Wunsch zieht sich durch eine lange Zeitleiste der Kunstgeschichte und wurde besonders hartnäckig von Joseph Beuys und dessen visionärer Aufbruchstimmung verkörpert: „Der Künstler muss heute der Gesellschaft zur Verbesserung des menschlichen Lebens dienen.“[2] Ein Satz, der ins klassische Botschaftsrepertoire von Beuys fällt und der seit seiner Aussprache 1979 zusammen mit der Erfindung der Sozialen Plastik mehrere Generationen an Künstlern zu einer politisch und sozial engagierten Kunst inspiriert hat. Doch die Wochenklausur scheint sich noch einmal weniger um eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Kunstbegriff zu scheren und dafür noch häufiger sozialpraktische Auswirkungen anzustreben.

Ob der Obdachlose, der einem Pfleger seinen entzündeten Fuß zeigt, oder der Arzt, der die Herzgeräusche einer Obdachlosen abhört, nun Kunst sind oder nicht, ist ein zweitrangiges Problem. Genauso zweitrangig ist eine Diskussion darüber, in welche Kategorie eine dort verabreichte Tetanusimpfung fällt. Zählt die Impfung als erweiterter Kunstbegriff, Nicht-Kunst, Noch-Nicht-Kunst, Urban Art, Kunst-Aktivismus, interventionistische Praktik, sozial engagierte Kunst, relationale Kunst, Soziale Plastik, Urban Performance, partizipative Kunst, Kunst als soziale Praktik, offenes Handlungsfeld, New Genre Public Art oder als relationale Ästhetik? Und kann eine Wundbehandlung als autonomes Werk gelten? Läuft sie unter Kunstfreiheit?

Antworten werden nicht folgen. In diesem Essay stehen nicht die Probleme und Debatten der Kunsttheorie im Mittelpunkt. Ihre sensiblen Reizthemen, die die Diskursreflexe der Kunsthistoriker und Kunstkritiker auslösen, sind nebensächlich. Trotzdem wird die Kunst eine Rolle spielen. Es wird darum gehen, was sie kann, was sie nicht kann, wie man sie benutzt und am Ende loslässt. Es wird darum gehen, den Kunstbegriff auszunutzen, Theodor W. Adornos Kritik an der politischen Kunst zur Konsequenz zu führen und Joseph Beuys auszunutzen. Dieser Essay ist eine Einladung, die Freiheit der Kunst, die Autorität der Kunst, die Medienmacht der Kunst, das attraktive Statussymbol der Kunst, die finanziellen Mittel der Kunstwelt und den fast religiös-standhaften Glauben an die Kunst konkret einzusetzen. Und zwar für etwas anderes: für die Realisierung von Kulturwerkzeugen. Sie sind das Hauptanliegen dieses Buches.

Doch bevor die Werkzeuge vorgestellt werden, soll noch einmal ein Schritt zurückgegangen werden in die Kunst, genauer genommen in die politische Kunst mitsamt ihrer Potenz- und Wirkungsschwäche. So kann man verstehen, warum sie in bestimmten Momenten losgelassen werden muss.


[1] Die Aussage stammt von Matthias Schellenberg. Vgl. Jochen Becker: „Am politischen Spiel teilnehmen – Ein Gespräch mit TeilnehmerInnen der ‚8WochenKlausur‘ über Kunstpraxis, Drogenpolitik und den Fortgang einer ‚konkreten Intervention‘“. In: Kunstforum International, Band 132, November – Januar 1996, S. 321.

[2] Vgl. Lucrezia De Domizio Durini/Zürcher Kunstgesellschaft/Kunsthaus Zürich (Hrsg.): Beuys Voice, Mailand, 2011, S. 33.