68 Projects – Lena Keller

Ausstellungstext / 68 Projects – Galerie Kornfeld /

„Es sind diese halbwachen, aber doch intensiven Momente, wenn man als Beifahrer nach draußen blickt, hinein in eine verschwommene Landschaft, die so nah scheint, sich aber doch nicht unmittelbar berühren lässt. Manchmal sind es Kindheitserinnerungen an unschuldige, frühmorgendliche Fahrten in die Ferien. Es können aber auch Erfahrungen von versunkener Nachdenklichkeit sein, übergehend in Entspannung und einen Funken Heilung. Regen, Schnee, Wärme oder Kälte, die reale Außenwelt, werden wie durch eine Dunstglocke abgeschieden. Man erahnt sie nur, vielleicht im ambivalenten Halbschlaf, den Gedanken nachhängend. Momente in denen sich alles miteinander vermischt, das Draußen, die Kälte, der Himmel, das Geschehene, vor dem man vielleicht davonfährt. Lena Kellers Malereien erinnern an solche Augenblicke. Sie strahlen eine Ambivalenz aus, zwischen besonnener Ruhe und Unsicherheit.


Dass dieser Ausstellungstext mit der Beschreibung einer Stimmung anfängt, hat
seinen Grund. Lena Keller malt Landschaften, und im Gegensatz zu Begri!en wie
‚Natur‘ oder ‚Gegend‘ hebt sich das menschliche Konstrukt ‚Landschaft‘ dahin
gehend von ihnen ab, dass das Ausmachen einer Landschaft immer mit einer
Stimmung verbunden ist. Ludwig Trepl, Professor für Landschaftsökologie, fasste kulturwissenschaftlich zusammen: „Landschaft ist […] nicht die Gegend, wie sie unabhängig vom Betrachter existiert, sondern die Gegend, wie sie im Geist des Betrachters gemalt wird. Es gibt die Landschaft also nicht, wenn niemand sie nicht sieht oder sie sich vorstellt.“1
In Lena Kellers Landschaftsgemälden scheint eine melancholische Stimmung wie
ein sanfter Hauch über die Leinwandoberfläche zu wehen, fast liebevoll wischt er jegliche Pinselspuren hinweg, die auf eine persönliche Gestik schließen könnten.
Als Vorlage dienen digitale Bilder, die Lena Keller am Computer bearbeitet. Durch virtuelle Filter werden Farben übersteuert, Lichter kontrastiert, Details geglättet und verflacht. So entsteht ein Verweis auf die Werkzeuge, die jeder in seiner Tasche trägt, zum Beispiel bei Instagram oder in Bildbearbeitungsapps. Landschaft wird in menschlicher, digitaler Produktion also nicht zur Natur, sondern zum zeitgenössischen Stimmungsvokabular. Auf der Leinwand übersetzt Lena Keller die Bildvorlage in Malerei. Manche Partien bleiben dabei realistischer, andere lösen sich in Verschwommenheit auf. Das gleiche gilt für die Konturen. Einige bleiben als scharfe Linie stehen, andere lodern wie Flammen in angrenzende Farbflächen
hinein. So entstehen auch emotionale Unsicherheiten: Betrachtet man hier wirklich eine unberührte Natur? Oder ist sie angegri!en? Sind die Bäume erkrankt?
Zeichnet sich die schlechte Behandlung durch den Menschen in dieser Umwelt ab?
Die Negierung der individuellen Handbewegung, also das spurlose Malen der
Künstlerin, ö!net gleichzeitig dem Betrachter die direkte Anschauung der
Landschaft. Und trotzdem existiert eine gewisse Distanz, die ich Ferne nennen
möchte. Auf klassischen Landschaftsgemälden, besonders in der Romantik, löste
sich der ferne Horizont über einem Meer oder einer Berglandschaft in Unschärfe auf. Der verschwommene Teil des Landschaftsbildes stellte sich gegen den analysierenden Verstand des Betrachters. Der ferne Horizont entkommt ihm und verspricht eine Existenz der Natur, die größer ist, als der Betrachter fassen kann.
Genau dort konnte Phantasie und Sehnsucht ihren Platz einnehmen, und zwar viel intensiver als bei einem Blick in einen idyllischen Heimat- oder geordneten Kulturgarten. Sind nun, wie bei Lena Keller, sehr viel größere Landschaftselemente unscharf, verweist das auf eine globalere Aussage von Ferne. Naturkatastrophen, der Klimawandel und Umweltverschmutzung treten somit an die Stelle von nahen Assoziationen, die diese Distanz begründen können.
Damit ist der Betrachter allein, allein in seiner direkten Sicht nach Draußen, allein in seinem Unvermögen die Natur zu betreten, die er doch genau vor sich hat. Auch ein wirkliches Begreifen dieser Landschaft bleibt ihm versagt. Wenn die Details verschwinden, ist keine konkrete Ortsbestimmung und keine Charakterisierung der Landschaft mehr möglich. Somit handelt es sich nicht um eine illustrative oder
didaktische Bildsprache, die auf direkte Weise aufklären oder warnen möchte.
Lena Kellers Malerei ist sehr viel komplexer und subtiler. Durch das
verschwommene Motiv, das besondere Licht und die intensive Stimmung tritt die
menschliche Sehnsucht in den Vordergrund. Lena Keller malt Bilder, auf denen
kein einziger Mensch vorkommt, und doch steckt in ihnen soviel Wahrheit über die menschlichen Bedürfnisse.“

Mehr Infos: https://68projects.com/exhibitions/watching-my-own-rotation