Anselm Reyle – Katalog

Katalogtext / Anselm Reyle / Kunstverein Heilbronn / Snoeck Verlag /

„Wenn die Verführung droht“

Larissa Kikol

Es glitzert, es funkelt, dazwischen ein Knistern, ein Blinken, im Neonlicht zischt die Farbe aus dem Feuerlöscher. Anselm Reyle ist nicht weit. Wenn man meint, das Rascheln von Folie kitzele im Ohr, wenn die Hände einen zum heimlichen Knautschen verleiten wollen, wenn der Blick an der Lichtkomposition der Streifenbilder hängenbleibt und wenn der Körper beginnt, sich im vollgesprühten Raum herumzudrehen, dann steht man in einer Ausstellung von Anselm Reyle. Die Verführung ist nahe, ist groß, doch ist auch noch ein gewisser Widerstand zu spüren. Will man es ihm so leicht machen?

Diese erste Unsicherheit verlangt eine genauere Ergründung. Zunächst ist klar, dass es hier über gewohnte Ausstellungsansichten hinausgeht. Es ist eine Inszenierung von Tafelbildern, Skulpturen, Lichtinstallationen und Wandmalereien in einem Gesamtkunstwerk, das auf die Sinne und den Körper ausgerichtet ist. Auf diese Aspekte möchte ich mich hier konzentrieren. Natürlich lassen sich Anselm Reyles Arbeiten hauptsächlich in andere Kontexte einordnen, die in der Literatur zum Künstler bereits fundiert zur Sprache kamen. Dazu zählt in erster Linie die kunsthistorische Geschichte der Streifenbilder, in die sich Reyle verorten lässt; und natürlich hinsichtlich der Folien in die Baumarkt- und Do-it-yourself-Ästhetik, in den künstlerischen Umgang mit Konsumwaren oder in die Nähe zu Andy Warhols Factory. Auch konzeptuelle Ansätze, beispielsweise die Fragen, wie weit Malerei gehen kann oder wie die Produktionsweise mit Assistenten die Autorenschaft beeinflussen, lassen sich an Reyle verhandeln.

Hier möchte ich aber die Frage nach den Effekten in der Kunst in den Vordergrund stellen. Somit führen Reyles Inszenierungen mich in meinem ersten Gedankensprung ins Theater und vor das Bühnenbild. Dort wird offenkundig inszeniert, erzählt wird aber keine Geschichte, das liegt in den Händen von Regisseur und Autor. Im Theater wird eine Stimmung erzeugt, eine Welt, die sich selbst bis in die hinterste Reihe versenden muss; auch nach oben in den Rang und die Logen. Um diese Sendestärke zu erreichen, wird mit Effekten gearbeitet: Materialien, Licht, Farben, Raumarchitekturen, Malereien, multidimensionale Collagen. Es wird das eingesetzt, was zum Transport einer gewünschten Atmosphäre nötig ist. Im Theater wird dick aufgetragen. Theater ist immer mehr. Effekte sind das, was gezielt ein Gefühl durch einen bestimmten Reiz auslöst, was wiederholt eingesetzt werden kann. Theater erfindet Effekte und überhöht sie, spielt mit ihnen, ist auf ihre Sendestärke aus. Reyles geknitterte Folien funktionieren ähnlich – die Farben seiner Streifenbilder, die Neonröhren, die vollgespritzten Wände. Auch diese zielen auf Effekte. Was im Theater gesucht wird, wird in der bildenden Kunst aber oft mit Skepsis betrachtet. Zumindest entspricht es nicht dem, was man nach einer klassischen, akademischen Lehrweise von Malerei oder Bildhauerei erwartet. Denn eigentlich soll es komplizierter sein: je mehr Aufwand, umso besser. Reyle widersetzt sich dem. „Die Folie ist ja das größte, mögliche Versprechen“, sagt er. „Ein großer Effekt mit möglichst wenig Aufwand und Kosten“. Reyle setzt also genau dort an, wovon man sich eigentlich als bildender Künstler fernhalten sollte. Früher habe er negative Bemerkungen zum Dekorativen und Effektvollen in seinen Arbeiten ernst genommen. Heute bekennt er sich dazu und fragt, worin denn eigentlich das Problem liege. Reyles Ansatz ist es, diese Art von Versprechen künstlerisch auszukundschaften. Die Kraft der Verführung bemerkt ja nicht nur der Betrachter, sondern in erster Linie auch der Künstler. Etwa wenn er in Neukölln an billigen Dekogeschäften vorbeiläuft, wo er mit glitzernder Folie ausgeschmückte Fenster sieht. Und auch bei ihm schwang anfangs ein Gefühl der Abstoßung mit. Auch er fragte sich, ob er es diesen Materialien so einfach machen sollte.

Doch so einfach ist es nicht, wenn man sich dem Resultat, das heißt den einzelnen Arbeiten, aber besonders auch den Ausstellungsgesamtwerken gegenüber sieht. Denn das, was man den Effekten vorwirft, ist im Grunde ja das, was man einen „billigen Effekt“ nennt. Aber was sind billige Effekte? Meistens kommen dort Kopie und Kitsch zusammen. In der Malerei beispielsweise müsste man von einem billigen Effekt sprechen, wenn Jean-Michel Basquiats raue Straßenbildsprache oder Pablo Picassos kubistische Gesichter kopiert würden, um den genialen Effekt innerer Zerrissenheit in einer Darstellung zu erzielen. Die Kopie an sich ist schon Kitsch und daher der Effekt nicht mehr authentisch. Anselm Reyle kopiert aber nicht. Die zerknitterte Folie ist eben die authentisch zerknitterte Folie. Er setzt sie in Szene, und zwar in eine neue.      

Die Acrylglaskästen um die Folie scheinen diese zu halten, zu stabilisieren und gleichzeitig verstärken sie das Lichtspiel. Es ist vor allem dieses bunte blitzende Licht im Relief, das sie malerisch erscheinen lässt. Von Weitem könnten es große, lockere Pinselspuren sein. Doch nur auf dem einen Auge, auf dem anderen bleibt die Folie präsent, entfaltet sich in all ihrer Schönheit, in ihrer Sendekraft. Die Neonröhren bestrahlen sie extra, setzen einen zeichnerischen Akzent in gerader Linie und fügen sich doch in die Materialität des Glatten ein.

Auch die Streifenbilder wirken nicht nur, wie man zunächst meinen könnte, durch ihre Farben, sondern durch das Licht, das sie abgeben. Spiegelungen und Reflexionen neben matten, monochromen Farben. Gemalt wird auch hier wieder mit den Lichtqualitäten der einzelnen Materialien. Das Gegeneinanderstehen ist nicht nur formal durch die klaren Kanten der Streifen betont, sondern auch in den Farben, die unharmonisch eine Nachbarschaft bilden. Es fing mal mit Flieder an, einer Farbe, die Anselm Reyle nicht mochte. Im Gegensatz zu seinen eigenen Vorlieben fragte er sich deshalb, was nun zu Flieder überhaupt nicht passen würde: Neongelb war seine Antwort. Und so entwickelten sich weitere Farbkompositionen. Am Ende wirken sie aber doch wieder zusammen, strahlen Effekt in harmonischem Sendebewusstsein aus.

Dass hier billige Konsummaterialen benutzt werden, ist eigentlich nichts Neues in der bildenden Kunst. Kennt man ihren Einsatz doch zur Genüge aus der Pop Art, den Readymades oder konzeptuellen Arrangements. In der abstrakten Malerei ist das Auftauchen von Alltagsobjekten jedoch ungewohnter, handelt es sich hier doch um einen Bereich, in dem die persönliche Geste, die Individualität des Genies hochgeschätzt wird. Abstrakte Malerei war bereits in der Nachkriegszeit der Gegenpol zur Pop Art. Gerade hier sollte die Malerei noch rein und autonom aus subjektiver Introspektive kommen und eben nicht aus der Gefühlswelt des Warenkonsums. Bei Reyle ist das anders, in seinen abstrakten Tafelbildern aus Formen, Streifen und Farben, setzt er genau das ein, was eine starke Verführungskraft auf die Sinne ausübt: glitzernde Glattheit, die Folie, die er nebenan findet.

In vielen seiner Ausstellungen sind Wandmalereien omnipräsent. Zum Beispiel die gespritzten Spuren aus den mit Farbe gefüllten Feuerlöschern. Die Technik kommt von der Straße, aus dem Illegalen. Künstler wie die Toy Crew oder wie 1UP malen damit auf der Straße, entweder den Namen ihrer Graffiti-Crew oder abstrakte Malereien auf Zügen und in U-Bahnstationen. Allover, möglichst schnell, kraftvoll und laut: diese Art der Malerei ist auf der Straße so verführerisch wie in einer Institution. Dessen sind sich auch die vandalischen Künstler bewusst. Das Versprechen ist ähnlich: Mit möglichst wenig Aufwand kann man größtmögliche Effekte erzielen. Zum Beispiel was das Format betrifft, besonders in der Höhe: Ganze Hausfassaden lassen sich über mehrere Etagen besprühen, der Körper, der Arm, wird einfach multipliziert. Der Farbauftrag funktioniert wie gewünscht, die Sichtbarkeit ist groß, die dabei entstehenden Geräusche bekräftigen die eigene Tätigkeit, das eigene Wachsen durch die ausufernde Malerei. Diese Malpraxis verführt als Erstes den Maler selbst. Er weiß es, er gibt sich ihr hin. Der Betrachter wird ebenfalls verführt. Sein eigener kleiner Körper steht in der übergroßen Sprühlandschaft – er will sie abgehen, den Kopf verdrehen, will in sie eintauchen. Aus der Nähe erkennt man die kleinen Pünktchen, einen Pointilismus der Superlative. Frech, denn er bekennt sich zum Versprechen, zum Effekt. Haben in der Moderne die Maler noch sorgsam jeden einzelnen Punkt mit der Pinselspitze auftragen müssen, bietet der Feuerlöscher die Möglichkeit einer unerhörten Revolution. Selbst Jackson Pollock ging noch nicht so weit. Die Straße erfand es zuerst, ähnlich wie die Leute im Theater wissen auch sie, worauf es bei der Sendestärke ankommt.

Im Kontrast dazu stehen bei Reyle monochrom bemalte Ausstellungsräume. Eine neonfarbene Wand stößt an eine mattgestrichene. Die Farbe wird hier aufgeblasen zu ihrer totalen Existenz. Sie strahlt, der Betrachter ist ihr ausgeliefert.

Verführung droht überall und schnell ergibt man sich ihr; lässt sie zu, fühlt sich geschmeichelt und berührt, erlaubt es sich, ihr nachzugehen. Dies zu Bejahen und als bewusste Strategie einzusetzen, macht Reyle aus. Seine Kunst ist auch Theaterkunst, ihre Sendekraft, verstärkt durch die Ausstellungsinszenierung, ist auf ein Maximum hochgedreht.