Aufsatz / Wilhelm Fink Verlag / in: „Staunen – Perspektiven eines Phänomens zwischen Natur und Kultur“ Herausgeber: Timo Kehren, Carolin Krahn, Georg Oswald, Christoph Poetsch
Hier die Einleitung des Aufsatzes:
Vom Staunen in der Kunstrezeption – Weltwunder-Strategien und Land Art
Mit den Worten „it felt to me as if the outside has its own wonder and I just
couldn’t compete“ erklärte der Bildhauer Anish Kapoor, warum er sich erst
in seinem späteren Kunstschaffen der Natur zuwandte. Heute hat er den von
ihm so benannten Wettkampf mit der Natur und den Naturwundern aufgenommen.
Er reiht seine eigenen Werke in eine postmoderne Erhabenheit
der Größe und der unüberschaubaren Maßstäbe ein, worunter er auch die
Land-Art-Installationen von Walter de Maria oder Michael Heizer zählt. Das
Zusammenwirken der Wunder der Natur, im Sinne ihrer magisch anmutenden,
extremen und gewaltigen Daseinsformen, des Erhabenheitsgefühls, welches
diese auszulösen vermögen, und einer künstlerischen Intervention, die mit
Faktoren der Größe und Unverhältnismäßigkeit spielt, erreicht in der Kunstbewegung
der Land Art seinen Höhepunkt. Im vorliegenden Aufsatz werden
besonders jene Werke der Land Art angesprochen, die sich durch spezifische
Variablen wie Größe, Menge oder technischen Aufwand einem Gigantismus
annähern.
Das Staunen scheint in der US-amerikanisch beeinflussten Kunst der zweiten
Hälfte des 20. Jh. besonders dort Thema zu sein, wo auch die Erhabenheit
in der Werkrezeption eine Rolle spielt. Der Erhabenheitsdiskurs dieser Zeit,
beispielsweise auf den abstrakten Expressionismus bezogen, griff auf Immanuel
Kants und Edmund Burkes Thesen des Erhabenen zurück; das Erhabene
galt dort als „eine Erstaunen erregende Macht“. Der Zeitgenosse und Philosoph
Jean-François Lyotard, der Kants Erhabenheitsbegriff auf die moderne
und postmoderne Kunst in einer von ihm überarbeiteten Version anzuwenden
versuchte, bedauerte, dass „es für den Betrachter heute immer schwieriger wird, überhaupt noch erstaunt zu sein“. Lyotard schrieb jener Kunstrezeption
ein Moment des Staunens zu, die durch eine erhabene Wirkung zu charakterisieren
ist. Er sah seinen Erhabenheitsbegriff u.a. in Werken des abstrakten
Expressionismus und in der Minimal Art verwirklicht. Dabei basierte seine Argumentation
hauptsächlich auf Arbeiten von Barnett Newman und Daniel
Buren. Parallel zu diesen Kunstbewegungen entwickelte sich die Land Art in
den USA einerseits als eine „kolossale Erweiterung der Minimal Art“, andererseits
als ein strategisches Spiel mit Bildern von erhabener Natur; jedoch blieb
sie von Lyotard unbeachtet.
In meinem Aufsatz beabsichtige ich, implizierte Faktoren des Staunens in
der Land Art aufzuzeigen. Meine erste These ist, dass das Staunen ein fundamentales
Rezeptionsmoment der Land-Art-Werke ausmacht. Deshalb fokussieren
sich meine Analysen gezielt auf den Prozess der Werkrezeption, weil
so dem Staunen des Betrachters nähergekommen werden kann. Methodisch
richtet sich die Werkinterpretation demnach nicht nach der Stellung des
Werkes in der Kunstgeschichte oder nach ikonographischen Fragestellungen.
Meine Herangehensweise folgt dem rezeptionsästhetischen Ansatz des Kunsthistorikers
Wolfgang Kemp, nach dessen Ansatz ein Werk „als Medium visueller
Kommunikation“ aufgefasst werden kann. Für ihn stellen sich eigene,
basisanalytische Fragen, z.B. wie ein Werk den Rezipienten anspricht und welche
Zugangsmöglichkeiten es ihm anbietet. Zu ihnen zählt u.a. auch der Ort
des Werkes und des Betrachters. Solche Aspekte sind besonders bei der Land
Art zu beachten, da die Natur als Ort und Bestandteil des Werkes den Betrachter
entscheidend beeinflusst. Dieser Ansatz kommt meiner Untersuchung des
Staunens in der Kunstrezeption gelegen, da das Staunen ein Gemütszustand
des Betrachters ist, der individuell, situativ und reaktiv entsteht und eine längerfristige, intellektuelle, objektive Auseinandersetzung mit der Intention des
Werkes nicht notwendigerweise nach sich zieht.
Auf diesem ersten Untersuchungsabschnitt baut meine zweite These auf:
Die mediale Vermarktung von Land-Art-Projekten verstärkt die Faktoren des
Staunens und kreiert gezielt postproduktiv neue Auslöser des Staunens. Das
Staunen wird dadurch zur Marketingstrategie. Folglich werden nicht nur die
Werke, sondern auch ihre Vermarktung auf dem Kunstmarkt und in Kunstmagazinen
bedacht. Somit ergeben sich drei Untersuchungsebenen: die originalen
Land-Art-Projekte, ihre mediale Vermittlung und Inszenierung sowie ihre
Bedeutung auf den verschiedenen Märkten. Die Auswertung aller drei Ebenen
ermöglicht schließlich die Beantwortung der Fragen: Wie hängen Erhabenheit
und Staunen im konkreten Fall der Land Art zusammen? Was löst das Staunen
aus? Welche Rolle spielt das Staunen in der Kunstrezeption? Hat das Staunen
einen materiellen Wert?
Die Untersuchung wird sich hauptsächlich auf Werke von Christo und
Jeanne-Claude stützen, da deren Gigantismus und deren zum Staunen anregende
Elemente sich auf allen drei genannten Ebenen deutlich nachvollziehen
lassen.
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