Sicherheit statt Ekstase – Alternative Perspektive auf die Zeichnungen von Ernst Ludwig Kirchner

Neofelis Verlag / Expressionismus /

Mein Aufsatz „Sichere Ekstase oder ekstatische Sicherheit? Ernst Ludwig Kirchners Zeichnungen“ in: „Expressionismus – Rausch“, Band: 09/2019,  Hrsg: Kristin Eichhorn / Johannes S. Lorenzen, Neofelis Verlag,

 

Einleitung:

„Der Topos der künstlerischen Ekstase ist eine omnipräsente Standard-Referenz bezüglich expressionistischer Zeichnungen. Ernst-Ludwig Kirchner gilt hier als Paradebeispiel, kommt doch kaum eine kunstgeschichtliche Analyse seiner Blätter ohne das Schlagwort ‚Ekstase‘ aus. Zu der Ekstase gesellen sich auch die Begriffe ‚Rausch‘ und ‚Nervosität‘. Alle drei Wörter beschreiben innerliche Zustände und stellen die drei Säulen der Psychologisierung von Kirchners Zeichenstil dar. Besonders häufig finden sie ihre Anwendung bezüglich der Zeichenserie Straßenszenen aus Berlin. Zur Erklärung der Bedeutung und der Begriffsherleitung der abstrakt linguistischen Hieroglyphen Kirchners kann hier auf die umfangreiche Kirchner-Forschung zurückgegriffen werden. Die ästhetische Erscheinung der Hieroglyphe variiert auf jeder Zeichnung, gleichzeitig lässt sich aber auch eine Entwicklung und Veränderung ihrer Beschaffenheit in der persönlichen und künstlerischen Biografie des Zeichners beobachten. Der Aufenthalt in Berlin ließ dem Forschungskonsens zufolge Kirchners Zeichenstil kantiger und hastiger werden, die Bewegung in der Großstadt einzufangen fordere mehrere „nervöse“ Linien, die Vorder- und Hintergrundmotive durchkreuzen und verstärkt in Bündeln zusammenfinden. Diesem Forschungsstand wird hier nicht grundlegend widersprochen, jedoch soll den genannten drei Säulen ein Fundament gelegt werden: In konkretem Bezug auf die Zeichenqualität dürfen nicht nur dekonstruierende, psychologische Zuschreibungen beachtet werden, sondern auch positiv konstruierende Bewertungen wie der Begriff der Sicherheit. Das qualitativ Herausragende an Kirchners Zeichnungen ist nicht die formale Niederschrift von psychologischen Zuständen wie Nervosität, Rausch und Ekstase, es ist  die zugrundeliegende Sicherheit im Umgang mit dem Zeichenwerkzeug trotz seelischer Verfassungszustände.“ […]