„Ungehorsam als künstlerische Strategie“ / Kunstzeitung //
„Künstlerpersönlichkeiten lässt sich viel nachsagen. Exzentrisch, verschlossen, zwanghaft oder wütend – egal, sie würden viele Beschreibungen akzeptieren, auch die negativen, solange sie das zu etwas Besonderem und Unangepassten macht. Unterstellte man ihnen allerdings Gehorsam, wäre das eine ernsthafte Beleidigung. Gleichzeitig ist ein großer Teil der Gegenwartskunst so angepasst wie seit den Kirchen- und Hofmalern nicht mehr. Was provokant und revolutionär daher kommen will, ist in Wirklichkeit nette Institutionskunst, die sich ganz gehorsam ein Sternchen für den medienwirksamsten Heiligenschein erstreben möchte. Regeln werden seit langem nicht mehr gebrochen.
Doch es gibt noch Oppositionen; Räume des Ungehorsams. Sie entstehen unter Autobahnbrücken, an Hausfassaden, Türen, Stadtwänden und auf Personen- und Güterzügen.
Die aktuell einzige Kunstbewegung in demokratischen Ländern, die Ungehorsam noch als künstlerische Strategie verfolgt, sind die Graffitisprayer. Sie taggen, schmieren, pinseln und sprühen ihre Namen dort hin, wo es Ihnen gefällt. Mal mit Sprühdosen, mal mit Malerrollen, mal mit Tinte aus Feuerlöschern. Dabei entstehen gestische, wilde, vandalische Arbeiten, denen zwar Buchstaben zugrunde liegen, die sich jedoch auch in malerische oder zeichnerische Bilder auflösen können. Ihnen geht es nicht darum, einer möglichst breiten Masse zu gefallen oder niemandem auf die Füße zu treten. Im Gegenteil: Sie brechen Gesetze, stören und sind auf Ablehnung vorbereitet. Die Flucht und das Verstecken vor der Polizei sind ebenso Teile ihrer Performance wie das Auskundschaften, das Klettern und Abseilen in der Stadtarchitektur sowie das Malen unter vollem Körpereinsatz. Ihre illegalen Arbeiten können politische Botschaften tragen, meistens ist das Politische aber das Nichtpolitische im Vordergründigen: Das illegale Aneignen von öffentlichem und privatem Raum für den ganz persönlichen, künstlerischen Drang. Sie wollen von der Menge gesehen werden, suchen aber nicht den öffentlichen Beifall. Durch diese Unabhängigkeit können Sprayer politisch oder ästhetisch agieren und sich zu spannenden Künstlerpositionen entfalten. Der Ungehorsam war und ist stets ein fruchtbares Feld für Kulturentwicklungen, die meisten Innovationen gehen auf Regelbrüche zurück, nicht auf Angepasstheit.“