Essay: Theorien über Individualität am Strand

mare. Die Zeitschrift der Meere // Essay „Einzigartig gleich“ / Ein Künstler und ein Soziologe: Was verraten uns Martin Paar und Andreas Reckwitz über den Menschen (am Strand)?

Auszug:

… „Parallel zur Massengesellschaft, entsteht aber auch ein dem entgegengesetzt erscheinendes Phänomen, nämlich das soziokulturelle Credo des Bestrebens nach Individualität. Dieses Jahrzehnt gipfelt eben auch im Inszenierungswahn des Ich-Menschen, der Authentizität, Besonderes und Unterscheidbares in sich selbst sucht, dargestellt durch die Profile auf sozialen Netzwerken, die Selfie-Kultur und eine „kreative“ Lebensgestaltung. Natürlich drückt sich die Ich-Inszenierung auch durch das Reiseverhalten aus. Diesen Zeitgeist untersucht vor allem der Soziologe Andreas Reckwitz, einer der wichtigsten, deutschen Gesellschaftsforscher. Wie verhalten sich seine Theorien gegenüber den Fotografien von Martin Parr? Oder anders gefragt: Was passiert, wenn das besonders originelle Ich-Profil an den Strand geht?

Reckwitz aktuelles Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ untersucht scharfsinnig die progressive Erhöhung von Individualisierung zur Singularisierung während der letzten Jahre. „Singularisierung meint aber mehr als Selbstständigkeit und Selbstoptimierung. Zentral ist ihr das komplizierte Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen freilich nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist.“ Reckwitz spricht von einem kuratierten Leben, anstelle eines einfach gelebten. Es herrscht ein Kampf um Sichtbarkeit, vor allem in den Arenen der sozialen Medien. Singularität bedeute aber nicht Einsamkeit. Im Gegenteil, das besondere Subjekt braucht den Applaus, die Likes und die Aufmerksamkeit der anderen, um sich als positiv different und singulär bestätigt zu fühlen. Die „sozialen Praktiken des Wahrnehmens, des Bewertens“ seien unabdingbar mit der Profilierung von (scheinbarer) authentischer Einzigartigkeit verbunden. Somit fungieren die sozialen Netzwerke auch als wichtige „Infrastruktur“ der singularisierten Gesellschaft. Nebenbei bemerkt: Zu Schaden kommt in dieser Entwicklung die nicht akademisierte Arbeiterklasse, die sich durch finanzielle und soziale Einschränkungen in ihrer Lebensweise weniger originell inszenieren kann und somit das Los des gesellschaftlichen Verlierers ziehen musste.

Die anderen, das heißt für Reckwitz die breite, akademisierte Mittelschicht, greifen auf kuratierbare Elemente ihres Lebensstils zurück, um das Prestige ihrer Unterscheidbarkeit zu erhöhen. Diese seien in großem Maße das Wohnen, das Essen, der Körper, die Erziehung und die (Schul-)Bildung sowie das Reisen. Letzterer Aspekt sei eine „zentrale und identitätsstiftende Beschäftigung des Subjekts der neuen Mittelklasse“. Man wolle kein Pauschaltourist mehr sein, sondern ein authentischer Kulturentdecker, der globalisiert sei, Geheimtipps kennt und originelle Orte aufsucht. Dies schließe aber nicht aus, dass zwischendurch auch standardisierte Touristenattraktionen besucht werden. Der Zweck des Reisens sei es demnach sein kulturelles Kapital zu vermehren, welches das besondere Ich auszeichnet.

Der Strandbesuch bleibt das beliebteste Must-Do der Reisenden, egal ob Massentourist in einem Pauschalhotel oder der Alternativentdecker. Ausgenommen dem kleinen Prozentteil der Privatstrandbesitzer, treffen auf dem Sand fast alle aufeinander. Auch wenn man Reckwitz Analysen in ihrer ausführlichen Gesamtheit zustimmen muss, scheint hier eine kleine Ausnahme zu liegen. Denn die Strandsituation birgt fast unausweichliche, natürliche Gegebenheiten, die die Verhaltens – und Inszenierungsmöglichkeiten des Einzelnen einschränken, bzw. angleichen.

Martin Parr portraitierte viele Menschen am Strand. In seinem Fotobuch „Life’s a beach“ zeigt er, wie sie sich dort für ihren temporären Aufenthalt einrichten und versuchen mit den Gegebenheiten klar zu kommen. Von 1985 bis 2012 reiste er unteranderem durch Südamerika, Europa, China und Thailand um das Verhalten der Strandbesucher zu untersuchen. Außer ein paar modischer Trends, scheint sich in den 27 Jahren nichts Essentielles verändert zu haben. Die natürlichen Gegebenheiten dominieren das Verhalten: Gemeint ist hier die sommerliche Hitze, der heiße Sand, die Gefahr eines Sonnenbrandes und die minimalisierte Textilauswahl, die sich weitestgehend auf Badekleidung, Handtuch und leichte Überwürfe (T-Shirts, Kleider) zum Schutz vor der Sonne beschränkt. Übliche Accessoires sind Sonnenbrillen, Kopfbedeckungen, Flip Flops, Zeitschriften und Bücher, Kopfhörer, Getränke und Lebensmittel, gegebenenfalls Strand- und Wasserspielzeug. Das Strandmobiliar beläuft sich meistens auf Sonnenschirme, Stühle und Liegen. Die Tätigkeiten sind ähnlich: Um den gewünschten Bräunungsgrad ohne Verbrennungen zu erreichen muss gecremt, gedreht, abgedeckt und geschützt werden. Der Gang mit nackten Füßen über den heißen Sand kann brennen. Man hat Durst und Hunger. Die Hitze kann schläfrig machen, im Tonus sucht man die Erfrischung im Wasser. Falls eigene Kinder anwesend sind, passt man auf sie auf und beschäftigt sie. Hin und wieder muss man Urin lassen. Die Sonne blendet. Tattoos sind weit verbreitet. Jeder schwitzt. Die Strandkulisse, in der sich alle anderen auch befinden, kann durch Bildausschnitte nicht maßgeblich verändert werden. Am Strand herrschen grundlegende Gegebenheiten, die sich nicht so leicht personalisieren und singularisieren lassen. Ein auffälliges buntes Handtuch, eine Designer-Sonnenbrille oder eine violette Biolimonade für Kreative fallen in der Kulisse nicht auf. Sportliche und unsportliche Körper gibt es viele.“ …