Katalogtext Philip Grözinger

Hirmer Verlag / Philip Grözinger – IF /

Hierfür schrieb ich den Essay „Der Blick nach oben. Zum planetarischen System der Freiheit, der Einsamkeit und des Spiels von Philip Grözinger“. Der Katalog wurde von Nicole Gnesa herausgegeben.

Auszug:

„Philip Grözingers Gemälde sind eigentlich Gemälde für Kirchen oder Kathedralen.

Sie gehören nach Rom.

Damit ist aber nicht der gegenwärtige Trend gemeint, zeitgenössische Künstler in sakralen Räumen ausstellen zu lassen, um die vergessene Leere mit neuem Leben zu füllen und gleichzeitig die Werke mit einer spirituellen Aura aufzuladen oder damit zu konterkarieren, welches auch wiederum auf eine Erhöhung der Kunst abzielt. Nein, weder soll eine Kirche Grözingers Malerei um eine neue Wirkungsebene bereichern, noch soll seine Malerei den gesellschaftlichen Zweck eines Kirchengebäudes als Raum von Kultur erweitern.

Grözingers Bilder sind bereits ein Tor zu einer anderen, himmlischen Welt, narrativ und doch auf den ersten Blick so außer-alltäglich, dass sie die Funktionen von erzählender, ikonografischer, sakraler Kirchenkunst in jedem Ausschnitt erfüllen. Die Religion dazu müsste noch erfunden werden, wäre sie da, gäbe es für ihre Anhänger Kirchen, dann würde Grözinger als Wand-, Decken- und Altarmaler als Erstes gerufen.

Auch in der florentinischen Schule wurden große Erzählstränge, Handlungen und Daseins-Räume in den Himmel verlagert. Michelangelos Himmel in der Sixtinischen Kapelle stellt das Jüngste Gericht in all seinen dramatischen Szenen dar. Wolken bilden Felsen, auf denen die Heerschaaren zusammenkommen, sich in der Masse drängen und aus ihr heraus agieren. Jesus ist voller Unruhe, Maria wendet sich von ihm ab, der heilige Bartholomäus hält die Haut in seinen Fingern, die man ihm abgezogen hat, bereit, dem Erlöser ein Messer zu überreichen. Auf anderen Wolken werden Folterinstrumente bereitgestellt: Räder, Haken, Sägen und Holzhammer.[i]

In Grözingers Himmelsbildern wurden die Folterwerkzeuge durch Spielzeuge ausgetauscht. Die felsigen Wolken werden bei ihm zu bunten Planeten, der Himmel zum Universum. Nach dem Jüngsten Gericht wird gespielt. Und gleichzeitig spielt der Glaube an diese nicht irdische Welt, an das gute Jenseits, scheinbar eine ebenso tragende Rolle.

Gehen wir in diesem Essay durch das Tor und erfahren Grözingers Welten in all ihren Stimmungen und Logiken, die bildweltlich und kunsthistorisch die physischen Gegebenheiten prägen. Diese Orte führen durch die Romantik und die Einsamkeit, über surrealistische Transformationen, in die Science-Fiction bis hin zur Gamification und dem Spiel. Und vielleicht liegen die Fluchtpunkte des Jenseits doch näher, als man zunächst denkt.

Das Stadium der Einsamkeit

So bunt und fröhlich Grözingers Welten auf den ersten Blick erscheinen, sind sie doch auf den zweiten Blick auch Orte von Einsamkeit und Melancholie. Aus der romantischen Malerei kennt man das Sujet des einsamen Blicks in die Weite und die Ferne nur zu gut. Die schwarz gekleidete Frau, die auf einem Balkon sitzt, sich vom Betrachter abwendet und ihren Blick auf die Berglandschaft schweifen lässt, malte Carl Gustav Carus in einer Bildwelt aus größter Stille und Einsamkeit, so als wäre jeder emotionale Anschluss an eine gesellschaftliche Zugehörigkeit ein hoffnungsloser Versuch. Frau auf einem Balkon (1824) erzählt von einer seelischen Flucht, die sie physisch nicht ausführen kann. Bei Caspar David Friedrich sind die Figuren schon längst aufgebrochen, sie kommen dort an, wo die Frau auf Carus‘ Gemälde sich nur imaginär hinbegeben kann: in der wilden Natur. Auf Zwei Männer in Betrachtung des Mondes (1819/1820) stehen zwei Wanderer an einer nächtlichen Lichtung zwischen einer entwurzelten Eiche und Felsen. Durch diesen irdischen Rahmen hindurch blicken sie in ein gelb-bräunliches Nachtlicht, in dessen Mitte der Vollmond steht. Friedrich porträtierte aber nicht die zwei Wanderer, sondern den Zustand der Waldeinsamkeit und der melancholischen, kosmologischen Ferne, die wie ein Magnet auf die romantisierende Seele wirkt.

Stärker noch in anderen Gemälden wie Mondaufgang am Meer (1821) oder Meer mit aufgehender Sonne (1826) »symbolisieren der lichte Himmelsraum und der unbegrenzte Horizont eine Erlösungschance – wie so oft bei Friedrich.«[ii] Der Mond taucht häufig als Licht- und Stimmungsquelle in Friedrichs Weiten auf. Er ist ein Fixpunkt der Blicke, die der Betrachter durch die Rückenhaltung der Figuren nie zu sehen bekommt. Die irdische Weite des Meeres oder der erdigen Landschaft verschmilzt mit der Weite des Universums zu einer seelischen Reisesehnsucht, vielleicht getrieben aus dem Wunsch nach psychologischer Erleichterung.

Nimmt man den Mond als weiteren geografischen Fixpunkt, gelangt man in ikonografischen Logiken ins Universum und eben auf weitere Monde und ihre Planeten, die sie umkreisen. Eben auf die Planeten Grözingers. Denn dort, wo Friedrichs Wanderer auch wiederum nur imaginär hinreisen können, sind Grözingers Figuren längst angesiedelt.

Ein schwarzes Wesen balanciert auf einem Hochseil-Parkour, direkt an der Küste (Cheap Tricks) seines Planeten. Dabei hält es zwei Gymnastiknudeln in den Händen, um Balance zu halten. Doch es ist nicht nur Spiel, sondern auch Ernst. Das Wesen ist allein, und gerade in der Einsamkeit können die inneren Dämonen am lautesten hervortreten. Eine seelische Balance zu halten, ist dann am schwierigsten. Im Himmel hat ein rundes Monster eine Sonne verschluckt und strahlt nun gelb aus dem Mund. Das Wesen ist mit sich selbst beschäftigt, eine Kontemplation über die Ferne würde es nur aus dem Gleichgewicht und zum Abrutschen bringen. Das Balancieren ist bereits eine körperliche und geistige Auseinandersetzung mit der Verortung des eigenen Selbst.“


[i] Vgl. Victoria Charles, Joseph Manca, Megan McShane, Danald Wigal, Malerei von der Antike bis zur Gegenwart, Parkstone Press International, New York 2012, S. 191.

[ii] Norbert Wolf, Caspar David Friedrich – Der Maler der Stille, Taschen GmbH, Köln 2015, S. 73–78.