Kleine Gedanken zu Linien und Stilen

Essay in Grafikmappe / Edition /

D.P.P.F.U.
(Dear Printer Print For Us)
Portfolio of 13 screen prints by
Peppi Bottrop, Andreas Breunig, Kerstin Brätsch, André Butzer,
Michaela Eichwald, Joanne Greenbaum, Albert Oehlen,
David Ostrowski, Matthias Schaufler, Jana Schröder,
Henning Strassburger, Michael Williams, Josef Zekoff
Curated by Alexander Warhus
Texts by Larissa Kikol, Christian Malycha
Published by Handsiebdruckerei Editionen, Berlin
On view until January 2022 at
Knust Kunz Gallery Editions, Munich

„Bilder zu lesen ist auch eine emotionale Aufgabe. Da führt der Bauch durchs Werk, angezogen oder abgestoßen von Farben, Kompositionen und Formen. Da entstehen Faszination, Wärme, Stress, Frieden oder ein Ruck, Entfremdung oder zu große Nähe. Es gibt Bildpartien, in die möchte man sich gerne schon einmal hineinlegen. Gerade bei abstrakter Kunst kann das vorkommen. Andere Partien möchte man lieber mit etwas Abstand betrachten. Die emotionale Reaktion ist ein oft unterschätzter, aber wichtiger Teil der Kunstrezeption. Der andere Teil ist der kognitive, analytische Teil. Diesem soll hier eine kleine Einführung gegeben werden. 

Zu Fragen der Formanalyse bietet das Standardwerk Kunstgeschichtliche Grundbegriffe von Heinrich Wölfflin konkrete Lösungsvorschläge. Wölfflin unterteilt die verschiedenen Arten der Linien und ihr Vorkommen im Bild. Er benennt die Konturlinie, die flächenfüllende Linie, die Bewegungsrichtungen der Linie, ihr Eigenleben und ihre Erscheinungsform. Auch die Linie in Einklang und Abweichung der zu beschreibenden Form wird untersucht.[1] Seine Analyseansätze lassen sich besonders gut auf abstrakte, expressive Bildgegenstände anwenden: „Am interessantesten bewährt sich das Prinzip des Linienstils da, wo das Objekt ihm am wenigsten entgegenkommt, ja ihm eigentlich widerstrebt.“[2]

Wölfflin spricht von der individuellen, visuellen Sprache des Künstlers und von deren Grammatik und Syntax. Durch die formale Analyse gelangt man zu der Aufschlüsselung dieser Zeichensprache und ihrer Verwendungsart, eben ihrer eigenen Gesetze und Logik.[3] „Jedes Kunstwerk ist ein Geformtes, ein Organismus. Sein wesentliches Merkmal ist der Charakter der Notwendigkeit, daß nichts geändert oder verschoben werden könnte, sondern alles sein muß, wie es ist.“[4]

Aber in welchem Stil malen die Künstler hier? Wie heißen ihre Linienstile?

In der Kunstgeschichte galt lange die Ermittlung eines bestimmten Stils als erstrebenswert. Es wurde beispielsweise zwischen einem Epochen-, einem Regional- und einem Individualstil unterschieden. Der Stilbegriff wird auch als summativer Begriff verstanden; anhand einer Reihenuntersuchung wurden Formcharakteristika als Grundmodelle und Tendenzen herausgearbeitet, die auf den einzelnen Kunstwerken und in ihrer konkreten Form in unterschiedlichen und variablen Umsetzungen auftauchten. Die Zurückführung auf eine zu Grunde liegende Stilform, ähnlich wie eine rhetorische Untersuchung, basiert demnach auf einer externen, formalen Kategorisierung, welche auf der äußeren Erscheinung beruht.[5]

Historiker, die sich dieser Methode verschreiben, sehen dementsprechend etwas Beunruhigendes in einem isolierten Werk. Eine Gefahr der Stilanalyse ist die Nicht-Berücksichtigung bzw. das Übersehen individueller oder temporärer Besonderheiten der Künstlerpositionen.[6] Daher ergibt sich der Stilanalyse nicht nur durch eine Arbeit, sondern durch so viele möglich.

Die Frage nach einem festen Stil spielt jedoch in der heutigen kunstwissenschaftlichen Forschung nur noch eine geringe Rolle. Die zeitgenössische Kunst weist Parameter wie Stabilität, Beständigkeit und längere Bindung an ein Objekt oder eine Methode nur noch selten auf. Der Stilbegriff wurde in einen Strukturbegriff überführt und durch Titel wie System, innere Regeln, Strategien und Künstlersprachen ersetzt. Ein charakteristisches Element der zeitgenössischen Kunst ist die Hybridisierung von mehreren Stilen, viele Künstler bedienen sich mehrerer individueller und zeitbezogener Stile, vermischen und kombinieren sie als Spielelemente.[7] Doch nichts muss so sein, feste Regeln gibt es nicht. So kann sich bei einem Künstler die Linie von einer zur anderen Arbeit oder Werkserie verändern, und sich bei dem anderen Künstler beständig durchs Werk ziehen. 

Und doch sieht man gerade durch eine Grafikmappe wie die Vorliegende am deutlichsten, wie sich die Linien von Urheber zu Urheber unterscheiden. Je länger man sie betrachtet, umso eigensinniger werden sie. Eine Linie von Schröder ist so anders wie eine von Breunig, ein Strich von Butzer so grundverschieden wie ein Strich von David Ostrowski. Auf diese Weise kann die Sammlung der Grafiken untersucht, gelesen und gefühlt werden. Linie für Linie. Dafür darf man die Figur, die Form und das Dargestellte auch mal vergessen, sich dem Papier als abstrakte Arbeit widmen, es drehen, auf den Kopf halten und die einzelnen Striche, Kurven, Farbaufträge oder Buchstabenlinien gedanklich isolieren und einzeln wahrnehmen. Dann treten Handschriften und Gesten hervor, die etwas über die Hand des Urhebers verraten, den Schlüssel eines jeden Stils.“


[1] Vgl. Wölfflin, Heinrich, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe – Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, 19.

    Aufl., Schwabe AG, Verlag, Basel, 2004, S.48ff

[2] Ebd., S.56

[3] Vgl. Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe – Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, 2004, S.263

[4] Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe – Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, 2004, S.147

[5] Vgl. Held/Schneider, Grundzüge der Kunstwissenschaft – Gegenstandsbereiche – Institutionen – Problemfelder, 2007

     S.337

[6] Vgl. Bauer, Hermann, Form, Struktur, Stil: Die formanalytischen und formgeschichtlichen Methoden, in: Belting,

    Hans/Dilly, Heinrich/Kemp, Wolfgang/Sauerländer, Willibald/Warnke, Martin: Kunstgeschichte – Eine Einführung, 6.

    Aufl., Dietrich Reimer Verlag GmbH, Berlin, 2003, S.167f

[7] Vgl. Held/Schneider, Grundzüge der Kunstwissenschaft – Gegenstandsbereiche – Institutionen – Problemfelder, 2007,

     S.350ff