Kunstforum International / Part II: Palais de Tokyo /
Gäste: Die Künstler Rotels, Taem, Tale, Doper und der Graffiti-Kurator und -Autor Robert Kaltenhäuser
Museumsdirektorin: Unsere Erweiterung der Ausstellung Natures Mortes von Anne Imhof im Palais de Tokyo 2021 ist nötig. Damals benutzte Imhof als zentrale architektonische und malerische Elemente ihrer Großinstallation Fenster aus Turin, die von dortigen Sprayern bereits bemalt wurden. Imhof inszenierte diese Arbeiten als essentiellen Mittelpunkt ihrer Ausstellung, versäumte jedoch die Urheber miteinzubeziehen. Eine Wertschätzung ihrer Produktion fand nicht statt, stattdessen wurden ihre Arbeiten als urheberfreie Readymades herabgewürdigt. Zeit die Sprayer in Turin ausfindig zu machen und sie nach ihrer Meinung zu fragen. Der Kurator und Autor Pietro Rivasi half bei der Recherche sowie der Kontaktaufnahme. Hier einige Auszüge ihrer Briefe, die von mir übersetzt wurden:
Rotels: „(…) Ich mag verfallene Dinge und ich schätze Annes Entscheidung, diese Fenster als Wände zu verwenden. Ich hätte sie vielleicht auch verwendet, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte Innenräume zu gestalten, denn ich liebe es, Objekte zu dekontextualisieren und ihnen ein neues Leben zu geben, vor allem, wenn das durch Kunst geschieht. (…) Wenn man mich gebeten hätte, an dem Projekt mitzuarbeiten, hätte ich zugesagt, aber nur, wenn ich völlig anonym bleiben könnte. Ich ziehe es vor, als Gast in der Menge aufzutreten und wahrscheinlich hätte ich darum gebeten, mehr der gläsernen Fenster zu bemalen.
An dieser Stelle frage ich mich, wo sie diese Fenster gefunden hat, ob sie vor dem Gebäude in Italien vorbeigekommen ist oder ob sie sie auf einer Müllhalde gefunden hat, wo sie bald zerstört worden wären, und ob sie sie vielleicht auch ohne Graffiti darauf ausgewählt hätte. Übrigens, danke Anne, dass du uns Sichtbarkeit verschaffst.“
Taem: „Die Schriftzüge auf den Fenstern der Ausstellung von Anne Imhof wurden (zum größten Teil) von ROTELS, TAEM (mir) und TALE von der UAO-Crew zusammen mit DOPER von RTS/ASM in Turin (Italien) in einer Winternacht im Jahr 2014 ausgeführt. Die Fenster befanden sich im ersten Stock (4 m hoch), an der Vorderseite eines frisch verlassenen Gebäudes, direkt an einer großen Straße im Norden der Stadt. Es handelte sich um eine Art kleines Dach, mit einer 60 cm hohen Stufe, die mit Eis bedeckt war und uns genug Platz ließ, um die Außenseiten zu bemalen. Orangefarbene Lichter, Kälte, eine typische norditalienische Winternacht. (…) Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie mächtig Graffitis sind… Keine Regeln, alle Räume.
Ich denke, Annes Ausstellung zeigt genau, wie groß diese Macht ist, auch wenn sie sich wahrscheinlich nie darum geschert hat, aber unbewusst hat sie eine Rolle in diesem Graffiti-Spiel gespielt, indem sie „uns“ dazu gebracht hat, den ganzen Weg nach Paris zu reisen und an einem Ort zu landen, der ein Publikum anziehen sollte, das weit von dem entfernt ist, für das wir gemalt haben… Ich meine, wir haben diese Fenster für unser Publikum, unsere Stadt, unsere Straßen gemalt, wer hätte gedacht, dass sie jemals so weit reichen könnten? (…) Meiner Meinung nach ist die wichtigste Fähigkeit, die zeitgenössische Künstler haben müssen, Gerissenheit, keine künstlerische/kreative Begabung oder was auch immer, nur Gerissenheit und ein gutes Geschäftswissen. (…) Graffiti frei von jedem wirtschaftlichen/entgeltlichen/geschäftlichen Konzept (…) Graffiti-Schriftzüge verkaufen nichts, sie sind nur eine erdrückende Zumutung der Existenz von jemandem, geschrieben auf jeder möglichen Oberfläche, die einen zwingt, sie zu lesen, auch wenn man es nicht will. Es wurde illegal auf den Straßen und in den Zügen geboren und kann nur dort leben, alles andere kann nicht mehr als Graffiti-Writing bezeichnet werden. (…) Wahrscheinlich (und darüber habe ich keine Informationen, da ich (wir) nie die Gelegenheit hatte(n), die Ausstellung zu sehen) wäre eine Beschreibung der ganzen Geschichte hinter diesen Fenstern der richtige Weg gewesen, um andere Realitäten zu erkennen, die indirekt zum Endergebnis beigetragen haben. Vielleicht hätte das Erzählen der ganzen Geschichte und nicht nur des Teils, der gerade passt, eine andere Sichtweise hervorrufen können, die zu einer anderen Meinung über das endgültige Werk geführt hätte? Wer weiß das schon…“
Tale: „[…] Dies führt zu einer Art von Amnesie gegenüber der Arbeit, die für die Produktion eines solchen Werks notwendig war. Hier sieht man also die ganze Ausbeute eines Werkes, es wurde einer unterrepräsentierten Gemeinschaft geraubt, ohne dass diese Gemeinschaft diese Entscheidung anfechten kann. Das ist ein sehr undemokratischer Prozess. Das zweite Problem ist eine Art spätkapitalistischer Kreislauf der Aneignung von profanen Räumen, um ihre Leichen zu re-monetarisieren. Was Nicklas Bildstein Zaar, Inhaber des Sub Studio für Imhofs Installation tat, war dass er Teile einer abgerissenen Bankfassade im Palais de Tokyo wieder zusammenbaute. Solch einen Prozess führt Sub häufig durch, auch werden verlassene Gebäude zu Geschäften umfunktioniert […]. Es gab aber vorher schon einen Prozess der Wiederaneignung dieses Raumes, ein Raum, der den Menschen weggenommen wurde, sowohl in geografischer als auch in monetärer Hinsicht. ]…] und Sub und Anne Imhof, die als Touristen in dieser „exotischen“ Stadt kommen, sehen ihn und beschließen, den Ort zu plündern, ohne sich die Mühe zu machen, die sozialen Gefüge und die Dynamik der Stadt zu verstehen. Dies ist eine klassische Trope der
imperialistischen Kunstpraxis, die sich nicht so sehr von den Plünderungen der Pyramiden oder alten „verlassenen“ Kulturen sowie ihren kuriosen und wertvollen Artefakten unterscheidet. […Turin ist ein großartiges Beispiel für diese Praxis und besitzt das zweitgrößte ägyptische Museum der Welt…). Das zurückgewonnene Bankgebäude wird nun erneut für die Menschen entfremdet, denen er gehören sollte. Er wird heilig und institutionell und steht wieder völlig außerhalb der Reichweite der Menschen. Es geht wieder darum, die Geschichte einer Gemeinschaft zu nehmen, sie auszuplündern, um sie für eine begrenzte Gruppe von Betrachtern wiederaufzubereiten. […] Und diesen Menschen wurde keine Plattform geboten, um sich zu wehren, um sich zu äußern, so als ob all ihre Geschichten, ihre Arbeit und ihre Existenz entbehrlich wären. Es ist wirklich herzzerreißend.“
Doper: „(…) dass eines meiner Werke (illegal auf den Fenstern eines verlassenen Gebäudes in Turin angefertigt) gestohlen, zerstückelt und von Imhof als Teil der „Architekturen“ ihrer Ausstellung im Palais de Tokyo verwendet worden war. Ich kannte ihr Werk vorher nicht, so wie sie meins nicht kennt, und das wird sicher auch so bleiben (…) Verlassen in der Gesellschaft von jemandem wie mir, der sich weigert, sich als Künstler zu definieren, aber deshalb nicht als Marionette im Hintergrund einer avantgardistischen Aufführung enden kann. […] Wenn ich außerhalb des Palais bleibe, habe ich den starken Verdacht, dass sich dieses Stilleben als ein Salat von weit entfernten Werken entpuppen, vereint durch den einzigen Wunsch, einen künstlerischen Status zu bestätigen, der trotz der „urbanen“ Maske von dem, was auf der Straße passiert, getrennt bleibt, der es weiterhin vorzieht, sich in einer Kristallvitrine einzuschließen, die Kunst vom allgemeinen Gefühl zu trennen, die Form dem Inhalt vorzuziehen und Grenzen zu ziehen zwischen einem Innen, das als künstlerisch ausgewählt wurde, und einem Außen, das zur Ignoranz verurteilt ist und zum stummen Beobachter der verbotenen Herrlichkeiten degradiert wird. (…) Ich füge hinzu, dass das Mindeste, was Imhof an dieser Stelle tun könnte, darin besteht, die Möglichkeit zu schaffen, die an dieser Geschichte beteiligten Personen auf ihre Kosten nach Paris einzuladen, um die Ausstellung zu sehen. (…) Ich werde immer ein Werk in einem Zug bevorzugen, das ein paar Tage unterwegs ist, bevor es verschwindet und bei denjenigen, die die Chance haben, es zu sehen, eine Spur unterschiedlicher und subjektiver Erinnerungen hinterlässt, als eine Leinwand, die vielleicht an sich sehr wertvoll ist, aber dazu verdammt ist, in den Räumen eines Museums oder noch schlimmer in der guten Stube eines reichen Sammlers zu verstauben und vernachlässigt zu werden.
Museumsdirektorin: Die Ausstellung wurde durch einige Leihgaben ergänzt. Dazu zählen gestische Außenbilder von Skubb, Tomek, Conie, Coco und Pal aus Paris, Tafelbilder von Georg Baselitz, Joan Mitchell, Rose Wylie, Renée Levi und Christopher Wool, sowie Skulpturen von Mark Jenkins und Stef Heidhues. Außerdem sind weitere Wände der Sprayer aus Turin darunter. Zum Schluss hören wir Robert Kaltenhäusers Review über Part II:
Robert Kaltenhäuser: Larissa Kikol versteht Writer als Künstler, die „gestische Außenbilder“ schaffen, und stellt sie ins Zentrum. Daraus folgt Wertschätzung, auch in der Währung der Kunstwelt: Einladung, Nennung, CV-Eintrag, Platz in der Kunstgeschichte. Der offiziellen wohlgemerkt. Symbolisches Kapital, optional ökonomisch verwertbar.
Garniert wird Part II mit einigen Werken regulärer, akademischer Kunst. Eins haben diese gemeinsam: sie dienen der Spiegelung bestimmter Aspekte des Writing. Malwerkzeug Sprühdose hier, antistylemäßig eingesetzt als hochinteressante Parallele, Slogans in Schablonentechnik dort. Fundstücke aus Museumsdepots beschwören gestisch abstrakte Expression, figuratives Bad Painting und das Thema des Outlaws. Sind Täternamen von Interesse? Man könnte sie nennen, wenn man sie kennte. Sind Levi, Wool, Mitchell, Baselitz hier ’namhaft‘? Als Künstler mit Eigenwert – oder lediglich austauschbare Zeugen für die Kunsthaftigkeit der Throw-Ups? Dreht sich damit der Spieß (ein wenig) um? Auf dem Kontinuum der Fallbeispiele zwischen Ignoranz und Informiertheit als Segen oder Fluch finden sich alle Extreme und alles dazwischen: Was wussten die Expressionisten über die Menschen der Südsee, was die Moderne über afrikanische Masken? Wie gut kannten sich Düsseldorfer Mensch-Maschinen und New Yorker Blockparty-People? Kulturelle Aneignungen: Kampfplatz für die Génération Identitaire oder Spielplatz der Creative Commons? Nutzung und Remix nur mit Nennung und Credit? Wird Imhofs bedenkenlos-freche, anonyme Aneignung dem Geist des Graffiti nicht gerechter als Musealisierungsversuche von ‚Style-Writing‘, losgelöst von Kontext und Transgression? Oder wäre eine informiertere Ref/verenz nach Art eines ‚Erased de Kooning Drawing‘ doch Ausweis eines viel gekonnteren Zugriffs aufs Material? Und Grund genug, es einmal praktisch durchzuspielen – als Gegenprobe aufs Exempel? Subtotal: mehr Fragen als Antworten. Denen kommt jedoch nur näher, wer wie Kikol einen Dialograum schafft und dem vermeintlich toten Material seine Stimme zurückgibt, auch wenn es dann widerspricht: Natures Morts, Part II. Fragen kostet nichts.